Vorgängerrunen und vorrunische Kultzeichen

Schon lange bevor die Germanen die Runenschrift entwickelten, sind für den nordgermanischen Raum Zeichen belegt, die gewisse Gemeinsamkeiten mit den Runen haben und sich teilweise in der Form ähneln. Diese Zeichen finden sich vor allem auf Felsplatten in Skandinavien wie in Südschweden und Südnorwegen, und entstammen der Bronzezeit, etwa von 2.000 bis 500 v. Chr. In Schweden sind sie unter dem Namen „hällristningar“, „Felsplattenritzungen“ bekannt. Ihr eigentlicher Charakter – magische Bilder, profane Zeichen oder „Zufallsfiguren“ (Krause) – ist allerdings nicht vollkommen erschlossen, auch wenn die Forschermeinung mittlerweile in eine Richtung tendiert.

Hällristningar von Aspberget
Hällristningar von Aspberget

Zusammenhang zwischen Runen und Zeichnungen

Die berühmtesten dieser Felszeichnungen finden sich in Bohuslän in Südschweden und sind noch heute aufgrund ihres kräftigen Rottones gut zu erkennen. Sie stellen verschieden Figuren dar, die auf kultische Zwecke schließen lassen, darunter „Tänzer und Adoranten (Anbeter) […], außerdem Gestalten hinter Pflügen und auf Wagengespannen. Besondere Bedeutung kam offensichtlich der Darstellung von Schiffen zu“. All diese Bilder lassen auf religiöse Bildszenen mit bedeutungsschweren Symboliken schließen. Weitere Sinnbilder finden sich außerdem in zahlreichen Sonnen- und Handdarstellungen, sowie Bildern, in die man Fruchtbarkeit und Götter interpretieren kann (Arntz).
Arnulf Krause sieht einen Zusammenhang zwischen diesen Felszeichnungen und der späteren Tradition der imposanten wikingerzeitlichen Runensteinsetzungen, betont allerdings ausdrücklich, dass sich eine direkte Verbindung von diesen Felsbildern hin zu den Runen nicht feststellen lässt. Arntz meint außerdem, bereits in der Bronzezeit habe es aufgerichtete Steine in Grabhügeln gegeben, diese hätten sich schließlich zu den wikingischen Bautasteinen entwickelt.

 

„[…] Obwohl immer wieder versucht wird, einzelne Runen auf bronzezeitliche Symbolzeichen zurückzuführen, kann dies nicht mit Sicherheit bewiesen werden. Eine Schrift ähnlich der des älteren Futhark lässt sich auf den Zeugnissen aus der Bronzezeit jedenfalls nicht finden.“
Arnulf Krause, Runen, S. 78-9

 

Insgesamt ist Krauses Darstellung soweit nichts hinzuzufügen, nichtsdestotrotz fallen bei genauerer Betrachtung der Bronzezeitbilder einige Gemeinsamkeiten zu einzelnen Runen auf, die, auch wenn sich keine direkte Verbindung von diesen Zeichen zur Runenschrift nachweisen lässt, vielleicht doch ihren Einfluss ausübten.
Ralph Elliott, der den magischen Gebrauch der Runen betont, schreibt, es sei unklar, ob ihr magischer Zweck aus dem Vorlagenalphabet – in seiner Deutung ein norditalisches Alphabet – oder von den vorrunischen Zeichen herstammt. Mit den vorrunischen Zeichen sind die hällristningar gemeint, denen er eine „kontinuierliche Tradition“ unterstellt und deren Höhepunkte in der Bronzezeit von 1300 bis 1200 vor unserer Zeitrechnung sowie in der Eisenzeit von 800 bis 600 vor unserer Zeitrechnung lägen.
Die Wurzeln der Zeichnungen datiert er bis in die Zeit der Indoeuropäer und führt die Symbole auf den indoeuropäischen Sonnenkult zurück. Die Ähnlichkeit dieser Zeichen mit einigen norditalischen Schriftzeichen wie T, H, I oder G hätten zu einer Fusion geführt. Die italische Schrift wurde übernommen, die Bedeutung der ursprünglichen Felszeichen den jeweiligen Buchstaben übergestülpt. Zeitweise, so Elliott, haben diese vorrunischen Kultzeichen gemeinsam mit den Runen bestanden und träten sogar auf gemeinsamen Schriftträgern auf. Als Beispiele hierfür nennt Arntz die Felsritzungen von Kårstad und Himmelstadlund, hier seien Felszeichnungen und Runen gemeinsam und „in augenscheinlichem zeitlichen Zusammenhang“ (Arntz, S. 141) aufgetreten.

Magische Bedeutung der Bilder

Arntz argumentiert, mithilfe dieser Bilder hätten die Menschen versucht Magie zu wirken, also natürliche Ereignisse ihrem Willen zu unterwerfen beziehungsweise diesem „mit eigener Macht entgegenzutreten“. Das könne man etwa dadurch erreichen, wenn man die Symbole der Sonne anbringe und der Sonne so zu scheinen befehle. „Das Bild der Sonne wirkt wie die Sonne selbst“ (Schneider), ein Teil des Ganzen könne für das Ganze stehen, wie etwa ein Kreis ebenso die Sonne symbolisiere wie ein Halbkreis. Um das Zeichen zu verstärken, könne man es vervielfachen, wie es etwa bei Spiralen geschehe (Kreise in Kreisen).
Die Häufigkeit und Gleichheit dieser Zeichen auf den Felsritzungen legt eine innere Bedeutungsfülle und eine Art einheitlichen „kultischen Wortschatz“ nahe. Arntz spricht von einem „festen Formelschatz, wie ihn die kultische Dichtung kennt“. Ihr Anbringen sollte möglicherweise die vorher erfolgte kultische Handlung in der Zeit verlängern.
Einige dieser Zeichen gleichen Runen zum Verwechseln, so etwa das schräge Kreuz Gebo (als Teil des Sonnenrades), der Kreis Ingwaz oder die Hand mit den ausgestreckten Fingern Algiz.

Es ist allerdings wichtig zu betonen, dass diese Felszeichnungen zwar als kultischer Wortschatz gedeutet werden, es sich bei ihnen darum aber keineswegs um eine Bilderschrift handelt. Die Bilder hatten keinerlei Lautwert, sondern nur eine Begriffsbedeutung.

 

„Sie wollen nicht bestimmte sprachliche Worte oder Sätze zum Ausdruck bringen, sondern wirksam sein. Sie dienen weder der Erinnerung noch der Mitteilung, sondern sie stellen die übernatürliche Welt in Bild und Zeichen dar, so wie sie auch in der Kulthandlung dargestellt wird, und gewinnen dadurch Macht über das Jenseitige.“
Helmut Arntz, Handbuch der Runenkunde, S. 139

 

Stein von Krogsta
Stein von Krogsta

Gleichen Zweck postuliert Arntz auch für die Runen. Auch ihr Mitteilungszweck wende sich ausschließlich an höhere Mächte. Als Beispiel hierfür nennt er den Einsatz von Zeichen auf bronzezeitlichen Gräbern oder Urnen an, die ausgestreckte Hand mit den gespreizten Fingern etwa, die man ebenso auf dem Runenstein von Krogsta wiederfindet. Diese Schutzzeichen seien nach Einführung der Runenschrift von den Runen übernommen worden.
Ein weiteres Argument für diese Theorie ist die Auffindung von Bildern und Runen zur selben Zeit beim selben Volk für den – wahrscheinlich – selben Zweck, wenngleich auch nicht auf demselben Fund.

 

„In der Steinkiste von Smiss trägt eine Wandplate ein Schiff, in der [Steinkiste] von Kylver [ist] das Futhark eingeritzt. Wir gelangen also zu einer Gleichsetzung beider mit dem Zweck, den Toten im Grab zu beschwören.“
Helmut Arntz, Handbuch der Runenkunde, S. 143

 

Daraus folgert Arntz, dass die beiden Systeme – Bilder auf Felsen und Runen – aufeinander eingewirkt haben müssen. Sie traten gleichzeitig und im gleichen Bereich, nämlich Kult, genauer: dem Totenkult, auf. Das wiederum lässt darauf schließen, dass die Runen, „ein umfassendes Bild des Glaubens“ (Arntz) darstellen.


Quellen

Arntz: Arntz, Helmut: Handbuch der Runenkunde. Edition Lempertz, Königswinter 2007 (1944).
Krause:
Krause, Arnulf: Runen. Marixverlag, Wiesbaden 2017.
Elliott:
Elliott, Ralph W. V.: Runes. An Introduction. Manchester University Press, St. Martin’s Press New York 1989 (1959).
Schneider:
Schneider, Herrmann: Germanische Altertumskunde. Germanen, Heidentum, C. H. Beck Verlag München (1938).

 

Bild 1: Hällristningar von Aspberget

https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/3/39/Aspberget_rock_carving_Sweden_4.jpg

 

Bild 2: Stein von Krogsta

http://kmb.raa.se/cocoon/bild/show-image.html?id=16000300040726

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