Der nordische Schöpfungsmythos erzählt, dass am Anfang der Zeit das Ginnungagap vorherrschte, der gähnende Abgrund, in dem „nichts war“. Nördlich davon lag das eisige Nifelheim, südlich das glühende Muspelheim: Beide Gebiete waren lebensfeindlich.
In der Mitte von Nifelheim gab es einen Brunnen namens Hvergelmir, aus dem entsprangen zwölf Ströme, die man Elivagar nannte. Auf ihrem Weg gefroren sie und auch ihre Giftdämpfe, die über ihnen lagen, gefroren und legten sich als neue Eisschicht über die alte, bis sich Schicht über Schicht stülpte und bis hinab zum Ginnungagap reichte. Auf der nördlichen Seite stockte also das Eis, während im Süden Feuerfunken flogen. Diese Funken erreichten die Eisberge am Ginnungagap und schmolzen sie, sodass sich aus den Tropfen allmählich eine menschliche Gestalt herausschälte: Diese war Ymir, der erste Reifriese. Während Ymir schlief, begann er zu schwitzen und so entstanden unter seiner Achsel ein Junge und ein Mädchen, und sein einer Fuß zeugte mit dem anderen einen sechsköpfigen Riesen.
Neben Ymir entstand auch eine Kuh aus dem Eis, Audhumla, aus deren Zitzen vier Ströme flossen. Von diesen ernährte sich Ymir, während Audhumla salziges Eis leckte.
Am ersten Tage entblößte sie so einen Haarschopf, am zweiten ein Haupt, am dritten Tag einen ganzen Mann, der von schöner Gestalt war. Er hieß Buri und zeugte einen Sohn namens Bör [1]. Bör wiederum nahm Bestla, die Tochter des Riesen Bölthorn zur Frau, und diese gebar im drei Söhne: Odin, Vili und Ve.
Die drei Brüder töteten den Riesen Ymir und sein Blut ertränkte alle Reifriesen bis auf einen [2]: Bergelmir [3] gelang mit seinem Weib die Flucht auf ein Boot [4], und er begründete das neue Geschlecht der Reifriesen.
Odin, Vili und Ve aber nahmen den Leib des toten Ymir und schleiften ihn in die Mitte des Ginnungagap: Aus seiner Schädeldecke formten sie den Himmel, aus seinem Fleisch die Erde, aus seinen Knochen die Berge, aus Zähnen, Kinnbacken und Knochensplittern die Steine. Das Hirn wurde zu den Wolken, das Blut zu Meer und Flüssen und seine Haare die Wälder. An alle vier Ecken der Erde setzten sie Zwerge, Nordri, Sudri, Austri und Vestri [5] – in jede Himmelsrichtung einen. Die Funken von Muspelheim setzten sie an den Himmel und bestimmten ihren Lauf und dadurch die Zeitmessung.
Jenseits des Meeres lag die Küste, an der die Riesen lebten [6], und die Götter hoben aus dem Meer Land empor [7] und errichteten mit Ymirs Augenbrauen einen Schutzwall [8]. Dieses Land nannten sie Midgard [9].
[1] Oder auch Burr. In der Rígsþula heißt der älteste Sohn von Jarl und Erna ebenfalls Burr (Strophe 41).
[2] Dahn interpretiert diese Blutflut als eine germanische Fassung einer Sintflut, die bei sehr vielen Völkern in der Sagenwelt vorkommt, wie etwa bei den Griechen und in der christlichen Mythologie. Erst durch Missverständnisse sei später eine Sündflut als Strafe für Sünden daraus geworden.
[3] Bergelmir, der Sohn von Thrudgelmir, der wiederum Aurgelmirs (Ymirs) Sohn war, der aus den Flüssen des Hvergelmir entstand. Man beachte den gleichen Namensstamm.
[4] Das Wort im Original lautet lúðr und ist nicht bekannt. Die wahrscheinlichste Übersetzung wird dennoch einheitlich als „Boot“ wiedergegeben. Fritzner sagt, damit sei ein ausgehöhlter Baumstamm gemeint, ein Trog, der zur Wiege und zum Fahrzeug dienen konnte.
[5] Das Geschlecht der Zwerge entstand wie Maden im Fleisch des toten Ymir. Erst die Götter Odin, Vili und Vé gaben ihnen Bewusstsein und menschliche Gestalt. Trotz dieser „Erhöhung“ blieb der bevorzugte Ort der Zwerge in Ymirs Fleisch (= unter der Erde).
[6] Útgarðr (Außenwelt) bzw. Jötunheimr (Heim der Jöten = Riesen). Der Name Jötunheim findet sich heute noch für ein bergiges Gebiet in Norwegen, das größtenteils mit Eis überzogen ist.
[7] In der Vǫluspá wird das Land (aus dem Wasser) emporgehoben, bei Snorri wurde das Wasser um das Land gelegt: „Aus dem Blute, das aus seinen Wunden geflossen war, machten sie das Weltmeer, festigten die Erde darin und legten es im Kreis um sie her, also dass es die meisten unmöglich dünken mag, hinüber zu kommen.“
[8] Es wird nicht deutlich, welche Rolle die Augenbrauen übernehmen. Dahl sagt, die Götter stützen die Erde auf die Augenbrauenbogen, um sie zu erhöhen und so gegen die Riesen zu schützen. Golter interpretiert sie als Wimpern, die einen schützenden Waldring am Ende der Erdscheibe ergeben.
[9] Midgarðr = Welt in der Mitte. In der Ynglinga saga taucht die Bezeichnung „Mannheimar“ (Heim der Menschen) auf. Dieser Begriff bezieht sich auf Schweden, wo man die Götter verortete. Dem wird Goðheimar (Heim der Götter) gegenübergestellt, ein ferner, nebulöser Ort.
„Mannheimar“ wird noch im 17. Jahrhundert im Namen des Werkes von Olof Rudbeck (1630-1702) „Atland eller Manheim“ (Atlantis oder Manheim) bezeugt.
Die Primärquellen
Die Quellen für den nordischen Entstehungsmythos sind überschaubar. Lediglich Lieder- und Snorra Edda erzählen uns ausschweifend darüber.
Snorra Edda
Gylfaginnig Kapitel 4-8 (Übersetzung nach Simrock)
Der schwedische König Gylfi will erfahren, warum das Asenvolk so viel Macht hat, verkleidet sich als alter Mann („Gangleri“, ein Beiname Odins) und sucht sie in Asgard auf. Dort trifft er auf die drei Götter Har („der Hohe“), Jafnhar („der Gleichhohe“) und Thridi („der Dritte“), die ihm bereitwillig auf alle seine Fragen Antworten geben.
4
Gangleri fragte: „Wie wurde die Welt, wie entstand sie, und was war sie zuvor?“
Har antwortete: „So heißt es in der Vǫluspá:
Einst war das Alter, da alles nicht war,
Nicht Sand noch See noch salzge Wellen,
Nicht Erde fand sich noch Überhimmel,
Gähnender Abgrund und Gras nirgend.“
Da sprach Jafnhar: „Manches Zeitalter vor der Erde Schöpfung war Niflheim entstanden; in dessen Mitte liegt der Brunnen, Hwergelmir genannt. Daraus entspringen die Flüsse mit Namen Swöl, Gunnthra, Fiorm, Fimbul, Thul, Slodr und Hridr, Sylgr und Ylgr, Wid, Leiptr und Giöl, welcher der nächste beim Höllentor ist.“
Da sprach Thridi: Vorher aber war im Süden eine Welt, Muspel geheißen: die ist hell und heiß, so dass sie flammt und brennt und allen unzugänglich ist, die da nicht heimisch sind und keine Wohnung da haben. Surtur ist er geheißen, der an der Grenze des Landes sitzt und es beschützt: er hat ein flammendes Schwert, und am Ende der Welt wird er kommen und heeren und alle Götter besiegen und die ganze Welt in Flammen verbrennen. So heißt es in der Vǫluspá:
Surtur fährt von Süden mit flammendem Schwert,
Von seiner Klinge scheint die Sonne der Götter.
Steinberge stürzen, Riesinnen straucheln,
Zu Hel fahren Helden, der Himmel klafft.“
5
Gangleri fragte: „Was begab sich, bevor die Geschlechter wurden und das Menschenvolk sich ausbreitete?“
Har antwortete: „Als die Fluten, welche Eliwagar heißen, so weit von ihrem Ursprunge kamen, dass der Giftstrom in ihnen erstarrte wie der Sinter, der aus dem Feuer fällt, wurde er in Eis verwandelt. Und da dies Eis stille stand und stockte, da fiel der Dunst darüber, der von dem Gifte kam und gefror zu Eis, und so legte eine Eislage sich über die andere bis in Ginnungagap.“
Da sprach Jafnhar: „Die Seite von Ginnungagap, welche nach Norden gerichtet ist, füllte sich an mit einem schweren Haufen Eis und Schnee, und darin herrschte Sturm und Ungewitter; aber der südliche Teil von Ginnungagap war milde von den Feuerfunken, die aus Muspelheim herüberflogen.“
Da sprach Thridi: „So wie die Kälte von Niflheim kam und alles Ungestüm, so war die Seite, die nach Muspelheim sah, warm und licht, und Ginnungagap dort so lau wie windlose Luft, und als die Glut auch dem Reif begegnete, als dass er schmolz und sich in Tropfen auflöste, da erhielten die Tropfen Leben durch die Kraft dessen, der die Hitze sandte. Da entstand ein Menschengebild, das Ymir genannt ward, aber die Hrimthursen [Reifriesen] nennen ihn Aurgelmir, und von ihm kommt das Geschlecht der Hrimthursen, wie es in der kleinen Vǫluspá [Vǫluspá in skamma] heißt:
Von Widolf stammen die Walen alle,
Alle Zauberer sind Wilmeidis Erzeugte,
Die Sudkünstler stammen von Swarthöfdi,
Aber von Ymir sind alle Riesen.
Und der Riese Vafþruðnir sagt auf die Frage:
Woher Oergelmir kam den Kindern der Riesen
Zuerst, der allwissende Jote?
als Antwort:
Aus den Eliwagar fuhren Eitertropfen
Und wuchsen bis ein Riese ward.
Unsre Geschlechter kamen alle daher:
Drum sind sie unhold immer.“
Da fragte Gangleri: „Wie wurden die Geschlechter von ihm ausgebreitet? Oder wie geschah’s, dass mehrere geschaffen wurden? Oder hältst du ihn für einen Gott, von dem du gesprochen hast?“
Da antwortete Har: „Wir halten ihn mitnichten für einen Gott: er war böse wie alle von seinem Geschlecht, die wir Hrimthursen nennen. Es wird erzählt, als er schlief, fing er an zu schwitzen: da wuchs ihm unter seinem linken Arm Mann und Weib, und sein Fuß zeugte einen Sohn mit dem andern. Und von diesem kommt das Geschlecht der Hrimthursen; den alten Hrimthurs aber nennen wir Ymir.“
6
Da fragte Gangleri: „Wo wohnte Ymir? Oder wovon lebte er?“
Har antwortete: „Als das Eis auftaute und schmolz, entstand die Kuh, die Audhumla hieß, und vier Milchströme rannen aus ihrem Euter; davon ernährte sich Ymir.“
Da fragte Gangleri: „Wovon nährte die Kuh sich?“
Har antwortete: Sie beleckte die Eisblöcke, die salzig waren, und den ersten Tag, da sie die Steine beleckte, kam aus den Steinen am Abend Menschenhaar hervor, den andern Tag eines Mannes Haupt, den dritten Tag war es ein ganzer Mann, der hieß Buri. Er war schön von Angesicht, groß und stark, und gewann einen Sohn, der Bör hieß. Der vermählte sich mit Bestla, der Tochter des Riesen Bölthorn; da gewannen sie drei Söhne: der eine hieß Odin, der andere Vili, der dritte Ve. Und das ist mein Glaube, dass dieser Odin und seine Brüder Himmel und Erde beherrschen.“
7
Da fragte Gangleri: „Wie vertrugen sich diese mit Ymir, und welcher war der stärkere?“
Har antwortete: „Börs Söhne töteten den Riesen Ymir, und als er fiel, da lief so viel Blut aus seinen Wunden, dass sie darin das ganze Geschlecht der Hrimthursen ertränkten bis auf einen, der mit den Seinen davon kam: den nennen die Riesen Bergelmir. Er bestieg mit seinem Weib ein Boot [Wiege] und rettete sich so, und von ihm kommt das (neue) Hrimthursengeschlecht, wie hier gesagt ist:
Im Anfang der Zeiten vor der Erde Schöpfung
Ward Bergelmir geboren.
Des gedenk‘ ich zuerst, dass der altkluge Riese
Im Boot geborgen ward.“
8
Da fragte Gangleri: „Was richteten die Söhne Börs aus, dass du sie für Götter hältst?“
Har antwortete: „Davon ist nicht wenig zu sagen. Sie nahmen Ymir und warfen ihn mitten in Ginnungagap und bildeten aus ihm die Welt: aus seinem Blute Meer und Wasser; aus seinem Fleische die Erde; aus seinen Knochen die Berge; und die Steine aus seinen Zähnen, Kinnbacken und zerbrochenem Gebein.“
Da sprach Jafnhar: „Aus dem Blute, das aus seinen Wunden geflossen war, machten sie das Weltmeer, festigten die Erde darin und legten es im Kreis um sie her, also dass es die meisten unmöglich dünken mag, hinüber zu kommen.“
Da sprach Thridi: „Sie nahmen auch seinen Hirnschädel und bildeten den Himmel daraus, und erhoben ihn über die Erde mit vier Ecken oder Hörnern, und unter jedes Horn setzten sie einen Zwerg; die hießen Austri, Westri, Nordri, Sudri. Dann nahmen sie die Feuerfunken, die von Muspelheim ausgeworfen umherflogen, und setzten sie an den Himmel, oben sowohl als unten, um Himmel und Erde zu erhellen. Sie gaben auch allen Lichtern ihre Stelle, einigen am Himmel, andern lose unter dem Himmel und setzten einem jeden seinen bestimmten Gang fest, wonach Tage und Jahre berechnet werden. So wird in alten Sagen erzählt, und so heißt es in der Vǫluspá:
Die Sonne wusste nicht, wo sie Sitz hätte,
Der Mond wusste nicht, was er Macht hätte,
Die Sterne wussten nicht, wo sie Stätte hätten.“
Da sagte Gangleri: „Das sind merkwürdige Dinge, die ich da höre; ein großes Gebäude ist das und sehr künstlich gebildet. Wie war die Erde beschaffen?“
Har antwortete: „Sie ist außen kreisrund, und rings umher liegt das tiefe Weltmeer. Und längs den Seeküsten jenseits gab sie den Riesengeschlechtern Wohnplätze, und nach innen rund um die Erde machten sie eine Burg wider die Anfälle der Riesen, und zu dieser Burg verwendeten sie die Augenbrauen Ymirs des Riesen und nannten die Burg Midgard. Sie nahmen auch sein Gehirn und warfen es in die Luft und machten die Wolken daraus, wie hier gesagt ist:
Aus Ymirs Fleisch war die Erde geschaffen,
Aus dem Schweiße die See,
Aus dem Gebein die Berge, die Bäume aus dem Haar,
Aus der Hirnschale der Himmel.
Aus den Augenbrauen schufen gütge Asen
Midgard den Menschensöhnen;
Aber aus seinem Hirn sind alle hartgemuten
Wolken erschaffen worden.“
Lieder Edda
Vǫluspá, Strophen 1-6, 9 (übersetzt nach Genzmer)
1. Gehör heisch ich
heilger Sippen,
hoher und niedrer
Heimdallssöhne:
du willst, Walvater,
dass wohl ich künde,
was alter Mären
der Menschen ich weiß.
2. Weiß von Riesen,
weiland gebornen,
die einstmals mich
auferzogen;
weiß neun Heime,
neun Weltreiche,
des hehren Weltbaums
Wurzeltiefen.
3. Urzeit war es,
da Ymir hauste:
nicht war Sand noch See
noch Salzwogen,
noch Erde unten
noch oben Himmel,
Gähnung grundlos,
doch Gras nirgend.
4. Bis Burs Söhne
den Boden hoben,
sie, die Midgard,
den mächtgen, schufen:
von Süden schien Sonne
aufs Saalgestein;
grüne Gräser
im Grund wuchsen.
5. Vom Süden die Sonne,
des Monds Gesell,
schlang die Rechte
um den Rand des Himmels:
die Sonne kannte
ihre Säle nicht;
die Sterne kannten
ihre Stätte nicht;
der Mond kannte
seine Macht noch nicht.
6. Zum Richtstuhl gingen
die Rater alle,
heilge Götter,
und hielten Rat:
für Nacht und Neumond
wählten sie Namen,
benannten Morgen
und Mittag auch,
Zwielicht und Abend,
die Zeit zu messen.
9. Zum Richtstuhl gingen
die Rater alle,
heilge Götter,
und hielten Rat,
wer der Zwerge Schar
schaffen sollte
aus Brimirs Blut
und Blains Knochen.
Vafþruðnismál, Strophen 20-21, 28-35 (übersetzt nach Genzmer)
20 Odin
Sage mir zum ersten,
wenn deine Einsicht taugt
und du, Wafthrudnir, es weißt:
woher kam die Erde
und oben der Himmel,
ratkluger Riese, einst?
21 Vafþruðnir
Aus Ymirs Fleisch ward die Erde geschaffen,
aus dem Gebein das Gebirg,
der Himmel aus dem Schädel
des schneekalten Riesen,
die Brandung aus dem Blut.
28 Odin
Sage mir zum fünften,
wenn deine Einsicht taugt
und du, Wafthrudnir, es weißt:
wer erwuchs in der Vorzeit
von Ymirs Stamm
und den Asen als ältester?
29 Vafþruðnir
Vor unzähligen Wintern,
eh die Erde geschaffen,
war geboren Bergelmir;
Thrudgelmir
war des Thursen Vater,
doch Aurgelmir sein Ahn.
30 Odin
Sage mir zum sechsten,
wenn deine Einsicht taugt
und du, Wafthrudnir, es weißt:
woher kam Aurgelmir,
der urweise Thurse,
einst zu der Riesen Reich?
31 Vafþruðnir
Aus den Eliwagar
flogen Eistropfen,
aus den Tropfen der Thurse wuchs;
unsre Sippen stammen dort alle her,
drum ist’s ein schlimm Geschlecht. [1]
32 Odin
Sage mir zum siebten,
wenn deine Einsicht taugt
und du, Wafthrudnir, es weißt:
wie zeugte Kinder
der kühne Riese,
da er kein Weib gewann?
33 Vafþruðnir
Knabe und Mädchen
wuchsen dem kühnen Thursen
unterm Arm vereint;
der Fuß mit dem Fuß
des Vielweisen zeugte
den sechshäuptigen Sohn.
34 Odin
Sage mir zum achten,
wenn deine Einsicht taugt
und du, Wafthrudnir, es weißt:
was weißt du als frühestes?
was weißt du als fernstes?
Allwissend bist du wohl.
35 Vafþruðnir
Vor unzähligen Wintern,
eh die Erde geschaffen,
war geboren Bergelmir;
als frühestes weiß ich,
dass den vielklugen Riesen
auf den Mahlkasten Männer legten.
[1] (drum ist rau der Riesen Sinn, Golter)
Grímnismál, Strophen 40-41 (übersetzt nach Genzmer; dort Strophen 38-39)
40 Aus Ymirs Fleisch
war die Erde geschaffen,
aus dem Blute das Brandungsmeer
das Gebirg aus den Knochen,
die Bäume aus dem Haar,
aus der Hirnschale der Himmel.
41 Aus des Riesen Wimpern
schufen Rater hold
Midgard den Menschensöhnen;
aus des Riesen Gehirn
sind die rauhgesinnten
Wolken alle gewirkt
Namen
Namensbedeutungen
dt. = eingedeutsche Version
Name | Namensvarianten und andere Namen | Gianna Chiesa Isnardi | Felix Dahn | Wolfgang Golter |
Ginnungagap | gähnender Abgrund |
gap von gapa = gaffen, gähnen |
||
Nifelheim (dt.) | Niflheim, Niflhel? (C.I.) | paese dell’oscurità (Land der Dunkelheit) | Nebelheim | |
Muspelheim (dt.) | Muspell, Múspell, Múspellsheimr | „keine gesicherte Interpretation“ | Flammenwelt | |
Hvergelmir | rauschender Kessel | |||
Ymir | Aurgelmir, Brimi, Blain | Ymir = Brauser, Aurgelmir = der brausende Lehm | von ymja = rauschen | |
Audhumla | Auðhumla, Audumla, Audumbla | Schatz-feuchte, Reich-saftige? [1] | „der Name widerstrebt der Deutung“ | |
Buri | [colui che] procrea (der, der zeugt); abitatore [del mondo] (Bewohner [der Welt]), [colui che] rumoreggia (Lärmer) | der Zeugende | ||
Bor | Burr, Bör | figlio (Sohn) | der Geborene | |
Bölthorn | Unheilsdorn | |||
Vili | Wili | Wille? | ||
Ve | We, Ve | Weihe? |
[1] „Wer in Audumla die Nass und Fruchtbarkeit spendende Wolke sieht, weil in einigen Mythologien, namentlich in der indischen, die Wolken oft als Milchkühe erscheinen, verkennt doch zu sehr den Unterschied zwischen südlicher und hochnordischer Natur.“
(Golter)
Komplette Namensliste
Audhumla |
Kuh, aus Nifelheims Eis entstanden |
Austri |
Zwerg im Osten |
Bergelmir |
Sohn des Thrudgelmir, entkommt der Flut von Ymirs Blut |
Bestla |
Reifriesin, Tochter des Bölthorn, Mutter von Odin, Vili und Ve |
Bölthorn |
Vater der Bestla, Reifriese |
Bor |
Sohn Buris |
Buri |
Von Audhumla aus dem Eis geleckt |
Elivagar |
Name von 12 Flüssen, deren Quelle Hvergelmir ist |
Fimbul |
Fluss des Hvergelmir (Elivagar) |
Fjorm |
Fluss des Hvergelmir (Elivagar) |
Ginnungagap |
Abgrund am Anfang der Welt |
Gjöl |
Fluss des Hvergelmir (Elivagar) |
Gunnþra |
Fluss des Hvergelmir (Elivagar) |
Hridr |
Fluss des Hvergelmir (Elivagar) |
Hrimthursen |
Reifriesen (erste Riesen) |
Hvergelmir |
Brunnen inmitten von Nifelheim |
Leiptr |
Fluss des Hvergelmir (Elivagar) |
Muspelheim |
Heißes Reich nördlich von Ginnungagap |
Nifelheim |
Kaltes Reich nördlich von Ginnungagap |
Nordri |
Zwerg im Norden |
Odin |
Sohn Bors, Schöpfer der Welt |
Slodr |
Fluss des Hvergelmir (Elivagar) |
Sudri |
Zwerg im Süden |
Surt |
Feuerriese, Wächter von Muspelheim |
Svöl |
Fluss des Hvergelmir (Elivagar) |
Sylgr |
Fluss des Hvergelmir (Elivagar) |
Thrudgelmir |
Sohn des Ymir, Vater des Bergelmir |
Þul |
Fluss des Hvergelmir (Elivagar) |
Ve |
Sohn Bors, Schöpfer der Welt |
Vestri |
Zwerg im Westen |
Vili |
Sohn Bors, Schöpfer der Welt |
Wid |
Fluss des Hvergelmir (Elivagar) |
Ylgr |
Fluss des Hvergelmir (Elivagar) |
Ymir (Aurgelmir, Brimi, Blain) |
Erster Reifriese, aus Nifelheims Eis entstanden |
Forschung und Deutung
Entstehung oder Erschaffung der Welt
Felix Dahn betont, dass in der nordischen Vorstellung die Welt nicht als von den Göttern geschaffen gedacht wird, sondern ebenso entstand, wie auch die Götter in ihr entstanden.
Wolfgang Golter vertritt hingegen von dem Standpunkt, dass die Welt von den Göttern ebenso geschaffen wurde, wie auch die christliche Mythologie von einer Weltenschöpfung durch einen Gott ausgeht. Aufgrund dieser These folgert Golter, dass die Sage nichtsdestotrotz nur wenigen Heiden bekannt gewesen sein dürfte. Hierfür führt er einige mittelalterliche isländische Sagas und Sagen auf, in denen nur von einer Weltenschöpfung durch den christlichen Gott die Rede ist.
In der Olafssage, Kapitel 201ff streiten beispielsweise Vater und (christlicher) Sohn über heidnische Götter. Schließlich sagt der Sohn:
„Der [Gott] dagegen scheint mir mächtig, der am Anfang die Berge gesetzt hat, die ganze Welt und die See. Was könnt ihr mir aber von diesem sagen?“ Darüber wurde von Svein [Vater] wenig gesprochen.
Aus der Orvar-Odd-Saga zitiert Golter:
„Wir glauben an den, der Himmel und Erde geschaffen hat, die See, die Sonne und den Mond.“
Odd sprach: „Der muss groß gewesen sein, der das alles gezimmert hat.“
Außerdem aus der Saga von den Leuten aus dem Vatnsdal:
„Das wird unserem Vater vergolten werden, der die Sonne geschaffen hat und alle Welt.“
„Nun will ich den anrufen, der die Sonne geschaffen hat, denn ihn halte ich für den Mächtigsten.“
Obwohl Golter durchaus einräumt, dass es sich bei den Sagas um verhältnismäßig junge Texte handelt, argumentiert er schlussendlich:
„Diese und andre Stellen betonen die Schöpferkraft des Christengottes, den sie mit bewusster Absicht Odin und den andern Göttern gegenüberstellen. Dass Odin und seine Brüder Himmel und Erde und die Gestirne schufen, dass sie den Lauf der Sonne und des Mondes regelten, wie es in den alten Liedern und der Edda heißt, kann demnach kein allgemeiner, lebendiger Glaube gewesen sein. Sonst hätte sich doch der Heide ebenso auf die Schöpferkraft seiner angestammten Götter berufen müssen. Die nordische Weltlehre scheint mithin eine Dichtung, kein eigentlicher Volksglaube, mit dem die Bekehrung zu rechnen hatte.“
Tatsächlich muss dieser Interpretation vehement widersprochen werden: Die Sagas wurden geschrieben lange nachdem das Heidentum von Island verschwunden war. Von christlichen Mönchen, die um die Schöpfungsmythen ihrer heidnischen Vorfahren von vor über 300 Jahren nicht wussten, gleichsam auf diese heidnische Vorfahren zu schließen, ist wissenschaftlich nicht haltbar.
Nifelheim und Muspelheim
Chiesa Isnardi vermutet, dass Nifelheim mit Nifelhel identisch ist. In diesem Fall würde es sich dabei um Helheim, also den Sitz der Hel handeln, wo eine der Wurzeln Yggdrasils Boden fasst.
Im Zentrum von Nifelheim steht der Brunnen Hvergelmir, aus dem die 12 Flüsse, die Elivagar, entspringen.
Der Name Muspelheim steht in deutlicher Verbindung zu anderen Begriffen der germanischen Sprachfamilie, etwa mut-/mudspelli im Angelsächsischen und muspilli im Althochdeutschen. Beide Male bedeutet es das Ende der Welt. Ein Fragment eines bayrischen Gedichtes aus dem 9. Jahrhundert unserer Zeitrechnung namens Muspilli thematisiert das Weltenende.
Die Söhne Muspellheims (Muspells synir, Muspells megir, Muspells lyðir) reiten am Ende der Zeit zu Ragnarök über die Regenbogenbrücke Bifröst und bringen diese dabei zum Einsturz, um in das Reich der Götter zu dringen. Sie sind eine Art apokalyptische Reiter und verdeutlichen das zerstörerische Prinzip des Universums.
Nifelheim und Muspelheim sind einander klar entgegengesetzt: Während Nifelheim in Norden liegt, liegt Muspelheim im Süden. Nifelheim ist kalt, feucht und dunkel, Muspelheim strahlend, trocken und heiß. Beides sind absolut lebensfeindliche Gebiete: Keiner, der dort nicht geboren wurde, kann überleben. Muspelheims Wächter ist Surt, der Feuerriese mit dem flammenden Schwert, der bei Ragnarök Freyr erschlagen wird.
Das Ginnungagap
In umgekehrter Form erscheint der Name „gapanda gin“ (gähnender Rachen) in der Flateyjarbók (dem größten isländischen Manuskript). Im Mittelhochdeutschen entspricht das Wort „ginunge“ der Hölle (Mittelhochdeutsches Wörterbuch von Benecke-Müller).
Golter bemerkt, dass die Norweger es im Norden der Welt verordneten, die Isländer zwischen Vinland (Norden Nordamerikas) und Grönland. Seines Erachtens entstand es, als sich die Materie im Norden und Süden bei Nifelheim und Muspelheim verdichtete. In den bildgewaltigen Beschreibungen vermutet er eine Inspiration der nordischen Wirklichkeit:
Das Gesamtbild der von Wasser, Nebel und Eis erfüllten Urwelt, deren Nacht vom Süden her allmählich Licht und mildere Luft empfängt, ist deutlich genug der nordischen Natur entnommen.
Chaos und Ordnung
Dahn interpretiert Ymir als den Urstoff der noch unausgeschieden, ineinander vermischt liegenden und durcheinander wogenden Elemente (man beachte die Bedeutung des Namens „Brauser“).
Ginnungagap und Ymir bestehen (der Vǫluspá zufolge) zur selben Zeit. Golter zieht dazu die Parallele von zwei Formen des Chaos: auf der einen Seite das Geistige („des abstrakten Denkens fähige Vorstellung“), auf der anderen das Materielle („die sinnliche, nur Gestalten begreifende Vorstellung“).
Auch Audhumla ist aus derselben Materie wie Ymir und das Chaos. Durchaus können Verbindungen zur griechischen Mythologie gezogen werden [1]. Wie Zeus von einer Ziege gesäugt wird, so säugt in der nordischen Vorstellung eine Kuh Ymir (nicht jedoch einen Gott!).
So stammen also die Götter selbst aus der Mutterseite von den Riesen ab: eine Erinnerung daran, das die Riesen ursprünglich nicht als böse galten, sondern selbst Götter waren, nur eben Götter einer roheren, einfacheren Zeit, einer früheren Kulturstufe, bloß Naturgewalten, welchen die Vergeistigung der SPÄTEREN Götter, der ASEN, fehlt: Ähnlich wie bei den Griechen die Titanen der olympischen Götterwelt vorhergehen. Aber auch die Asen entbehren einer Naturgrundlage nicht (Odin hat zur Naturgrundlage die Luft, Thor das Donnergewitter): Das drückt ihre Abstammung von einer riesischen Mutter aus. Vili und Ve (…) verschwinden bald wieder: sie sind nur als gewisse Seiten von Odin selbst zu denken. […] Börs Söhne erschlugen Ymir: vergeistigte höhere Götter können die bloße Naturgewalt nicht in Herrschaft und Leben lassen.
(Dahn)
Alsbald beginnt aber auch der Kampf zwischen ihnen [Göttern und Riesen], welcher das ganze Dasein der Götter in der nordischen Sage erfüllt. Die Götter bändigen die ungezügelten Elemente, um geordnete, wirtliche und wohnliche Zustände dem Chaos entgegenzustellen. Aber es bedarf steter, scharfer Wachsamkeit, den Bestand des Gewonnenen zu sichern. Am Ende stürzt doch alles wieder vor den entfesselten Elementargewalten zusammen. Die Riesen rächen ihre lange Unterjochung an den Göttern. Unter den Trümmern taucht eine neue vollkommene, sündlose Welt unter einem andern ewigen Gotte empor.
(Golter)
Trotz Schöpfungsmythos, Entstehung von Leben und Errichtung von Ordnung thematisiert die Erschlagung Ymirs die Konfrontation mit den eigenen Schatten, mit dem unbeherrschten Unterbewusstsein, mit der eigenen Wurzel: Obwohl die drei göttlichen Brüder mütterlicherseits direkt von Ymir abstammen und väterlicherseits doch zumindest jene Kuh, die ihren Großvater befreite, Ymir am Leben hielt, sind sie der wilden Natur gegenüber feindlich eingestellt und töten sie zugunsten der Ordnung, sie sie schaffen wollen.
Aus der Bluttat entsteht Fruchtbares: Ymirs Leichnam wird zur Welt erhoben, aus seinen Überresten Erde und Himmel geschaffen: Dabei ist auffallend, dass sämtliche Teile von Ymirs Kopf dem Himmel dienen (Schädeldecke zu Himmelsgewölbe, Hirnmasse zu den Wolken), während der Rest seines Leibes in der Tiefe bleibt (Blut zu Meer, Fleisch zu Erde, Knochen zu Bergen, Haar zu Wäldern).
[1] Vergleiche außerdem Hvergelmir mit dem griechischen Okeanos.
Sekundärliteratur:
- Golter, Wolfgang, Germanische Mythologie, 2013 (1895)
- Dahn, Felix und Therese, Germanische Götter- und Heldensagen, 2013 (1919)
- Chiesa Isnardi, Gianna, I miti nordici, 2016
Primärliteratur:
- Die Snorra Edda (übersetzt nach Karl Simrock)
- Die Snorra Edda (übersetzt nach Arnulf Krause)
- Die Lieder-Edda (übersetzt nach Felix Genzmer)
- Die Lieder-Edda (übersetzt nach Karl Simrock)
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