Die Skaldik ist eine Form der Dichtung, die im frühen Mittelalter in den skandinavischen Ländern (Norwegen und Island) praktiziert wurde. Trotz ihrer großen lokalen Rolle und ihrer kunstvollen Verarbeitung findet sie in Diskursen über germanische Dichtung kaum Erwähnung und ist abseits der Skandinavistik verhältnismäßig unbekannt.
Die Regeln der Skaldik
Die Skaldik ist strengen formalen Regeln unterworfen — so streng, dass ihr von Kritikern teilweise vorgeworfen wurde, dem gesunden Kunstempfinden zu widersprechen. Der Form zuliebe sei der Inhalt
geopfert worden, meint etwa Eugen Mogk. Hermann Schneider spricht gar davon, die Skalden seien nicht mehr vom dichterischen Feuer angesteckt und durchglüht
worden, sondern spielten spitzfindige Verstandesspiele (vgl. Klaus von See).
Eine Kritik dieser Art kann nur zustande kommen, wenn man die Skaldik mit falschen Ansprüchen bewertet. Anders als im modernen Kunstverständnis möchte die Skaldik nicht durch „Gefühlsdichte,
Unmittelbarkeit und Anschaulichkeit” begeistern, sondern durch eine „kompliziert-raffinierte, streng traditionsgebundene und eben darum auch außerordentlich anspielungsfähige Metaphorik, durch
eine kunstvolle Verschränkung von Satzbau und Versbau und durch ein feinfühliges Spiel mit klanglichen Effekten” herausragen (ebd.).
Ein erschwerendes Kriterium zur Bewertung der Skaldik ist, dass ihre Strophen in Übersetzungen ein kaum ertragbarer Wust ungelenker Wörterreihen sind, die Satzstruktur nicht zusammenpasst und
weder Form noch Klang noch Inhalt überzeugend wiedergegeben werden können.
Tatsache ist, dass die Regeln der Skaldik tatsächlich sehr streng sind, aber gerade dadurch diese Kunst auf archaisch und gleichzeitig so filigrane Art und Weise zutage tritt. In ihrer Form
bestand sie gute fünf Jahrhunderte, zählt man die moderne isländische Erscheinung der Rímur dazu, sogar über ein Jahrtausend.
Im Folgenden möchte ich daher einen kurzen Überblick über die formalen und inhaltlichen Aspekte einer Skaldenstrophe Aufschluss geben. Da es unmöglich ist, diese anhand einer Übersetzung zu
klären, komme ich nicht umhin, altnordische Originale zu zitieren. Strophen und Übersetzungen sind aus Klaus von Sees „Einführungen in die Skaldendichtung” entnommen. Seine Zusammenfassungen,
Forschungsergebnisse und Übersetzungen werde ich auch in allen folgenden Artikeln über die Skaldik zu Rate ziehen.
Voraussetzungen
Es gibt eine Reihe von politischen und linguistischen Voraussetzungen, welche die Entwicklung der Skaldik in dieser Form erst ermöglicht haben. Zu den politischen gehört etwa der Reichtum an den norwegischen Fürstenhöfen, der erst durch die Wikingerfahrten entstehen konnte.
Sprachlich ist die wichtigste Voraussetzung jedoch die starke Flexion des Altnordischen. Auch nach vielen Jahrhunderten hat sich die Sprache kaum verändert und noch heute ist das Neuisländische dem Altnordischen gar nicht unähnlich. Das Isländische gehört zu den Sprachen mit einer starken Deklination - weit stärker als es das Deutsche noch hat. Diese auffallenden Endungen ermöglichen es ähnlich wie im Lateinischen Satzfragmente auseinander zu nehmen und frei über die Verse zu verteilen ohne dass die Strophe dadurch ihre Sinnhaftigkeit einbüßt. Diese Freiheit ist notwendig, um neben all den formalen Regeln der Skaldik noch genügend Platz für eine Aussage zu schaffen.
Formaler Aufbau einer Strophe
Um den Aufbau einer Strophe zu erläutern, ist es vonnöten erst einmal grundlegende Begriffe zu klären:
Stabreim: Im Gegensatz zu den romanischen Sprachen, die sich gewöhnlich des Endreimes bedienen, war im germanischen Raum lange Zeit der Stabreim (Alliteration) vorherrschend. Zwei miteinander alliterierende Wörter nennt man Stäbe. Neben gleichen Konsonanten staben außerdem alle Vokale am Wortanfang
miteinander (also beispielsweise ask mit embla).
Binnenreim: Als typisches Merkmal der Skaldik gilt der Binnenreim, das heißt eine Übereinstimmung des Lautes in der Wortmitte. Ein skothendig bezeichnet einen konsonantischen Binnenreim (auch halber Reim genannt, bei dem der Vorvokal variieren kann wie etwa bei
skorð und herðar), ein aðalhendig dagegen bezeichnet einen Binnenreim, bei dem
die gesamte Silbe übereinstimmt (wie etwa bei haukvallar und falla).
Stef: Ein stef ist eine Art Refrain, der in einer drápa (Preisgedicht) im
Hauptteil vorkommt. Während der Sinn der Strophe derselbe bleibt, können und sollen die Wörter darin variieren.
Hebungen: Eine Hebung bezeichnet die Betonung einer Silbe. Mitunter können diese Hebungen durch eine Nebenhebung ergänzt werden. Auf sechs Silben in einer Zeile kommen drei
Hebungen, sodass ein starker betont-unbetont-Rhythmus entsteht.
An- und Abvers: Der Anvers betrifft alle ungeraden Zeilen, der Abvers alle geraden.
Helming: Eine skaldische Strophe besteht aus 8 Zeilen, wobei vier davon ein helming bilden (sinnhafte Einheit). Ein helming wiederum besteht aus zwei
Verspaaren, die durch Stabreim miteinander verbunden sind.
Erklärung anhand einer Strophe
Die folgende Strophe entstammt der Glymdrápa (Strophe 5) von Þórbjǫrn hornklofi (Ende des 9. Jahrhunderts) und wurde zu Ehren Harald Schönhaars gedichtet. Die Übersetzung ist von Klaus von See:
Háði gramr, þars gnúðu,
geira hregg við seggi
- rauð fnýsti ben bloði -,
bryngǫgl í dyn Skǫglar,
þás á rausn fyr ræsi
(réð egglituðr) seggir
- æfr gall hjǫrr við hlífar –
hnigu fjǫrvanir (sigri).
Der König entfachte, dort wo rauschten,
den Speersturm gegen die Krieger
- die rote Wunde spie Blut aus -,
die Brünnengänse im Lärm der Skögul,
da am Vordersteven vor dem Fürsten
(es errang der Klingenfärber) die Krieger
- heftig gellte das Schwert gegen die Schilde –
leblos niedersanken (den Sieg).
Stäbe und Binnenreime
Die Stäbe:
Stets ein ganzes Verspaar stabt miteinander, die Stäbe sind insgesamt drei an der Zahl, wobei der Anvers zwei Stäbe, der Abvers einen Stab
erhält. Während der zweite Stab im Anvers immer auf die letzte betonte Position fällt, steht der dritte Stab im Abvers an der Spitzenposition — im wahrsten
Sinne des Wortes, denn ihm fällt mit dieser Stellung nicht nur das erste Wort des Verses, sondern auch eine besondere Betonung zu.
Die Binnenreime:
Die Binnenreime sind jeweils nur innerhalb eines Verses zu finden, halber Binnenreim im Anvers (also mit variierendem Vokal), voller Binnenreim im Abvers (Vokal und Konsonant stimmen überein).
Der halbe Binnenreim in den Anversen steht jeweils in der ersten und letzten Silbe. Im Falle einer unbetonten Silbe kann sich das geringfügig verschieben.
Die erste Position des vollen Binnenreims kann in der ersten Hälfte der Strophe variieren, seine zweite Position steht jeweils in der letzten betonten Silbe. Einen stilistischen Zusatz, der
keineswegs Pflicht ist, haben wir in dieser Strophe, indem sich die vollen Binnenreime über die ganze Strophe hinweg entweder zur Gänze (übereinstimmende Vokale) oder zur Hälfte (nicht
übereinstimmende Vokale) entsprechen.
Gebrochene Zeilen (Zäsurgesetz)
Gebrochene Zeilen kommen in der Skaldik sehr häufig vor, da viel mit Schachtelsätzen gearbeitet wird. Unter einer gebrochenen Zeile versteht man einen Vers, der nicht als Ganzes aus einem Satz besteht, sondern in dem sich zwei Sätze treffen können. Gerade diese Zerstückelung ergibt eine der größten Schwierigkeiten bei Übersetzungen und Verständnisfragen von Skaldenstrophen. Anhand des obigen Beispiels kann man das sehr einfach verdeutlichen. Im Folgenden entspricht jedes Zeichen einer Silbe, gleiche Zeichen gehören zum selben Satz.
- - - o o o
- - - - - -
: : : : : :
o o o o o o
- - - - - -
| | | | - -
x x x x x x
- - - - | |
In diesem Zusammenhang fand Hans Kuhn die Regel des Zäsurgesetzes heraus. Dieses besagt, dass diese Zeilenbrüche im Anvers stets zwischen die beiden Stäbe fällt, außerdem in allen Zeilen (also An- und Abvers) zwischen die beiden Binnenreime fällt. In der folgenden Strophe ist die Zäsur durch einen senkrechten Strich verdeutlicht.
Inhalt einer Strophe
Berühmtestes Element der Skaldik sind die Kenningar und Heiti. In fantasievollen Umschreibungen benennen sie Wörter
auf eine Weise, die den Zuhörer zum Rätseln animiert. In obiger Strophe bezeichnen beispielsweise die „Brünnengänse” die Pfeile, der „Lärm der Skögul” (eine Walküre) ist die Schlacht.
Kenningar bremsen die Erzählung stark aus, da sie nicht epischer (erzählender) Art sind. Sie stehen unabhängig vom Inhalt da, denn die verwendeten Wörter müssen nichts mit dem Inhalt der Strophe
zu tun haben. Insofern ist es wenig verwunderlich, dass dieses viel verwendete Stilmittel zusammen mit den starken formalen Kriterien dazu führt, dass in Skaldenstrophen kaum etwas passiert.
Meist kann der Inhalt einer Strophe auf einen banalen Hauptsatz reduziert werden.
Deutlich wird das auch an der Verwendung der Wortgruppen, die Klaus von See darlegt: In einer repräsentativen Skaldenstrophe finden wir neben einem Verb, einer Präposition und einem Pronomen
sieben Substantive und zwei Adjektive - die nominalen Elemente überwiegen also in einem Verhältnis von 9:3, während die „Tunwörter” kaum eine Rolle spielen.
Eben das meint Eugen Mogk im Zitat am Artikelanfang, wenn er sagt, der Inhalt würde zuliebe der Form geopfert. Passender finde ich allerdings Klaus von Sees Beschreibung: „[…] der Skald erzählt
nicht, er baut — so könnte man sagen — in seinen Strophen eine Folge von Momentbildern auf.”
Kenningar und Heiti
Quellen
Klaus von See: Klaus von See, Skaldendichtung. Eine Einführung, Artemis & Winkler Verlag 1984
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