Wie im letzten Artikel bereits erklärt, kann unter den Schrifttypen zwischen Kult- und Gebrauchsschrift unterschieden
werden. Diese Frage ist keineswegs schmuckes Beiwerk und an sich unwichtig, sondern leitet vielmehr die gesamte Fragestellung nach der Bedeutung der Runen ein: Waren Runen magische
Schriftzeichen, mit denen Schutzzauber und Flüche gewirkt werden konnten, oder sind sie als Schrift ebenso banal wie unser heutiges Alphabet, das lediglich dazu dient, Worte und Gedanken zeitlich
zu fixieren und damit Erinnerung zu ermöglichen?
Grundsätzlich kann festgehalten werden, dass die Runenschrift schon sehr früh sowohl für kultische als auch für profane Zwecke verwendet wurde und wir Beispielfunde für beide Seiten haben. Diese
Interpretationen sind allerdings in keinem Fall vollkommen sicher, denn insbesondere Runeninschriften des Älteren Futharks zeichnen sich durch Kürze und Knappheit aus, häufig bestehen sie etwa
nur aus einem Wort oder Namen, an den noch ein „machte” angehängt wird: „Naþijo machte” (Schildfessel 2, Illerup, Dänemark) – handelt es sich hierbei schlicht um das stolze Vermerken, das
Schmuckstück hergestellt zu haben, oder liegt dem Aufschreiben des eigenen Namens eine magische Handlung zugrunde?
Interpretationssache
Die Frage, ob die Runen eine Kult- oder eine Gebrauchsschrift seien, hat in der Forschung eine lange und teilweise sogar emotionale Diskussion ausgelöst. Seit Raymond Ian Page wird in skeptische und imaginative Forscher unterschieden, wobei hier eine immer deutlichere Bewertung fassbar wird:
„Die von Page mit ‚imaginativ’ und ‚skeptisch’ gekennzeichneten Haltungen von Runologen werden neuerdings zunehmend einmal diffamierend (‚imaginativ’) und zum
anderen auszeichnend (‚skeptisch’) gebraucht.”
Klaus Düwel und Wilhelm Heizmann, Das ältere Futhark: Überlieferung und Wirkungsmöglichkeiten der Runenreihe, S.
32
Diese Problematik zeigt deutlich, dass neutrale Forschung eben auch heute nicht möglich ist und die Deutung eines Runenfundes
vielfach von der Vor-Einstellung des Wissenschaftlers abhängt, der sich damit befasst (vgl. RGA). „[Es fällt auf], dass nicht wenige Deutungen von Runeninschriften von der (magizistischen,
profanistischen etc.) Grundeinstelung des/der jeweiligen Interpreten/-in abhängig zu sein scheinen” (Nedoma).
Somit hat sich die Fragestellung nach dem inneren Zweck der Runenschrift in eine ideologische Diskussion zwischen Grundeinstellungen der individuellen Forscher verschoben. Vielfach ist
zweifelhaft, inwiefern eine nüchterne Forschung imstande ist, magische Glaubensvorstellungen einer vergangenen Kultur anzuerkennen und zu deuten ohne dabei selbst in die Verlegenheit zu kommen,
den wissenschaftlichen Grundsatz von Faktenbesessenheit aufzugeben. Dabei ginge es gar nicht darum, selbst diese Glaubensvorstellungen anzunehmen und für möglich zu halten – die Frage ist allein,
wofür die Germanen ihre Schrift hielten und verwendeten.
„Runologie jedoch, die ausschließlich als sprachwissenschaftliche Disziplin verstanden wird, stößt vor allem dann schnell an ihre Grenzen, wenn es darum geht,
für eine Runeninschrift den ‚Sitz im Leben’ zu ermitteln […]. Spätestens hier zeigt sich, wie sehr die runologische Forschung auch kulturgeschichtlichen Fragestellungen verpflichtet sein muss.
Dies gilt für die Fuþark-Inschriften, die, aus sprachwissenschaftlicher Perspektive betrachtet, wenig hergeben ebenso wie für viele Inschriften aus der älteren Runenperiode […]. Sie fügen sich
nicht nur schwer in den bisherigen Kenntnisstand ein, sondern sperren sich überhaupt gegen ein Verstehen, wie wir es gewohnt sind.”
Klaus Düwel und Wilhelm Heizmann,
Das ältere Futhark: Überlieferung und Wirkungsmöglichkeiten der Runenreihe, S. 24
Beide Auffassung, sei es „skeptisch”, sei es „imaginativ”, neigen häufig zu vorschnellen Interpretationen und gerade bei unverständlichen Runenfunden greift schnell ein ideologisches Muster.
Dies zeigten sehr deutlich die Runeninschriften auf den Goldbrakteaten aus der älteren Runenperiode, die zu hunderten gefunden wurden. Einige der Inschriften sind Runenfolgen, die in keinen sinnvollen Zusammenhang gebracht werden können. Während die ‚imaginative’ Forschung diese in Richtung magischer Inschriften deutet, deren Kraft entweder in uns fremden Formelwörtern oder in den einzelnen Runen (Namensbedeutung) liegt („in dubio pro deus” vgl. Düwel), greift die ‚skeptische’ Forschung auf das Argument zurück, solcherlei Runenfolgen seien Fälschungen und Betrug („many meaningless bracteate runes […] were frankly a pure swindle, aimed at hoodwinking credulous customers”, Erik Moltke, 1985, S. 99, zitiert nach Düwel und Heizmann) oder gar „sinnlos” und infolge dessen entstanden, weil die Brakteaten von Runenunkundigen kopiert wurden.
Die Macht der Schriftlichkeit
Dass die Germanen eine mündliche Gesellschaft waren, ist gesichert und belegt. Selbst wenn man die Runenschrift als Gebrauchsschrift werten wollte, wäre die Schriftlichkeit dennoch zu wenig verbreitet, um die Germanen insgesamt zu einer Schriftgesellschaft zu machen. Im Gegensatz zu den irischen Kelten, welche die Ogham-Schrift auf der einen Seite und fürs Geschäftliche die griechische Schrift auf der anderen Seite nutzten, brauchten die Germanen genau genommen gar keine Schrift, denn ihre soziale Struktur war nicht danach ausgerichtet.
„[…] An traditionelle mündliche Überlieferung und Schriftlosigkeit gewöhnt, bedurften sie [die Germanen] keines Alphabets. Ihre Ökonomie war nicht so weit
fortgeschritten wie die keltische – insofern hätten ‚Geschäftsbriefe’ mit griechischer Schrift wahrlich keinen Sinn gemacht. Und die Verwendung der Runen änderte natürlich nichts an der oralen
Gedächtniskultur im Norden. Noch in der Wikingerzeit des 9. bis 11. Jahrhunderts entstanden Edda- und Skaldengedichte, die offensichtlich über 300 Jahre mündlich überliefert wurden. Darum weist
doch vieles darauf hin, dass die Runen vom ‚Hauch des Geheimnisvollen’ umweht wurden und von Anfang an kultischen und magischen Zwecken dienten.”
Arnulf Krause, Runen,
S. 71
Warum aber sollte eine Gesellschaft eine Gebrauchsschrift verwenden, wenn sie keinerlei Bedarf an einer Schrift hat, wenn diese Schrift ihr soziales Leben nicht erleichtert und auch sonst
keinerlei Änderung bringt? Schon allein aus diesem Grund schließt sich die Annahme einer Gebrauchsschrift bei den Germanen aus.
Fest steht, dass die Germanen, die häufig und teilweise intensiv mit den Römern in Kontakt standen, Möglichkeiten genug gehabt hätten, das Schreiben der lateinischen Schrift zu erlernen. Sowohl
weil sie eine Adaption dieser lateinischen Schrift und Schriftgewohnheiten verweigerten als auch „aus den [Runen-]Denkmälern spricht deutlich, dass die Germanen, auch im Besitz der Runen, gar
nicht in unserm Sinn schreiben wollten” (Arntz, S. 23).
Ein noch deutlicherer Hinweis ist die Bedeutungsgeschichte des Wortes „Rune” an sich: In allen mit dem Germanischen verwandten Sprachen heißt „Rune” so viel wie „Geheimnis”. Diese Bedeutung ist
schwerlich mit einer Gebrauchsschrift in Zusammenhang zu bringen, passt dafür umso besser zu einer Kultschrift, die dazu dienen soll, Kontakt mit dem Übernatürlichen oder Göttlichen aufzubauen
beziehungsweise Magie zu üben. Insbesondere im Hinblick darauf, dass nicht alle der Runenschrift mächtig waren, und wer es war, großes Ansehen genoss und dies in seinen Inschriften auch deutlich
verkündet, ergibt es Sinn, dem Geheimnis der Runenkunde mächtig zu sein.
An dieser Stelle ist es wichtig, eine erste Trennung zu ziehen: Wenn man von magisch-religiösem Gebrauch von Runen spricht, meint man zwar zwei Dinge, die derselben übernatürlichen
Vorstellungswelt angehören, die sich aber grundsätzlich entgegenstehen und keineswegs entsprechen.
Während der Kundige in der Magie Einfluss auf sein Umfeld, seine Mitmensch oder auf überirdische Wesen wie Dämonen und Geister durch Schutzzauber oder Fluch ausübt, sie nach seinem Willen lenkt
und beherrscht, sind religiöse Anrufungen genau das Gegenteil:
„Der/die Gläubige unterwirft sich einer göttlichen Macht bzw. ‚unverborgenen’ Naturkräften, deren Wohlwollen oder Hilfe (durch Gebete) gewonnen werden muss; das
göttliche Wesen steht nicht unter menschlicher Kontrolle, es ist in seinem Handeln frei.”
Robert Nedoma, Zur Problematik der Deutung älterer Runeninschriften –
kultisch, magisch oder profan?
Es liegt im Wesen einer kultischen Schrift, dass ihre Verwendung als etwas Überirdisches verstanden wird. Das Schreiben allein hat magischen Charakter, in einer Vielzahl von Quellen über
geographische und zeitliche Parameter weit gestreut wird eine Zauberhandlung in Schreib- und Sprechhandlung unterteilt. Das Schreiben fixiert den magischen Vorgang und hält ihn auch für die
Zukunft fest. Im Zusammenhang mit griechischen Amuletten schrieb Gunter Müller: „Das Aufbringen [d.h. Schreiben, Anm. v. Düwel und Heizmann] der Zauberwörter und Namen auf die Amulette ist meist
ein Teil der Zauberhandlung selbst und rituell genau definiert” (Gunter Müller, 1988, S. 153, zitiert nach Düwel und Heizmann).
„Diese Prozeduren und Rituale sind in der Überlieferung magischer Runeninschriften natürlich nicht bewahrt. Die auf uns gekommene Runeninschrift ist sozusagen
nur ein ‚Überrest’ aus einem einstmals komplexen Ritual mit Magier, Sprech- und Schreibhandlung (die im Einzelfall zusammenfallen können), verbunden mit Gesten, Bewegungen und Gesang. Eine
gewisse Vorstellung vom Ablauf einer solchen Gesamthandlung vermag die Egils saga (cap. 44) zu geben: Egil ritzt Runen in ein Horn, rötet sie mit seinem Blut und spricht dazu eine
Strophe.”
Klaus Düwel (zitiert nach Düwel und Heizmann, S. 29)
Für diese magische Bedeutung einer Kultschrift und insbesondere der Runen sprechen auch mittelalterliche Quellen, wie beispielsweise das Skirnismál: Skirnir ritzt einen Fluch auf einen Stab und
verspricht Gerd, die Runen wieder abzuschaben, wenn sie sich seinem Willen unterwirft. „Wie eine Schrift durch Abschaben unsichtbar wird, so verliert mit Entfernung der Schrift, die ihn
bekräftigen sollte, auch der Zauber seine Wirkung: er ist also an die Runenzeichen gebunden, haftet nicht nur am zauberischen Wortlaut, sondern an den Zeichen der Schrift” (Arntz, S. 259).
In diesem Lied haben Runen also alle Charakteristika eines Zauberzeichens und sind überdeutlich mit magischem Inhalt aufgeladen.
Helmut Roth widerspricht dem Gedanken an kultische Schriftzeichen allerdings vehement. Die Runeninschriften der älteren Periode seien zum allergrößten Teil „im weiblichen Bereich angesiedelt und
darüber hinaus [wird] in der Mehrzahl das Verhältnis zwischen Mann und Frau angesprochen […], also die Privatsphäre. Aus dieser Tatsache erübrigen sich unseres Erachtens sprachwissenschaftliche
Konstruktionen, die tief Mystisch-Intellektuelles in die Inschriften einer ländlichen Bevölkerung hineinlesen wollen” (Roth, S. 311).
Die Gleichsetzung von Weiblichkeit sowie ländlicher Bevölkerung mit profan und nichtmagisch ist allerdings wissenschaftlich schwer haltbar: Frauen werden als Runenritzerin von Beginn an ebenso
erwähnt wie Männer (Fibel von Weingarten I, Bronzezierscheibe aus Pforzen usw.). Und warum ländliche Bevölkerung (zu der damals übrigens das gesamtgermanische Volk gezählt werden kann) keine
religiösen und spirituellen Bedürfnisse beziehungsweise die Fähigkeit besessen haben soll, „Intellektuelles” in einen Gegenstand zu ritzen, erschließt sich ebenfalls nicht.
Magische Namensnennungen
Insbesondere in der älteren Runenperiode häufen sich die Runenfunde mit Namensnennungen. Inhaltlich sind sie häufig sehr einfach strukturiert, bestehen etwa aus einem schlichten „N.N. machte” oder „Ich, N.N.” (meist ein beschreibendes Adjektiv).
N.N. machte | Skovgårde (Seeland, Dänemark), Rosettenfibel | lamo talgida | Lamo schnitzte |
Ich, N.N. | Gårdlösa (Schonen, Schweden), Bügelfibel | ekunwodʀ | Ich, der Unwütige |
Solcherlei Namensnennungen kommen in solcher Vielzahl vor, dass es kaum gerechtfertigt sein kann, dafür banale Schreibübungen anzunehmen. Betrachtet man die germanische Vorstellung der
Namensbedeutung, wird deutlich, dass das Anbringen des eigenen Namens mit einer magischen Schrift einen tieferen Zweck gehabt haben muss als Langeweile oder reine Faszination an der Schrift. Dass
die Formelhaftigkeit dieser Inschriften in der Textsorte und nicht in der magischen Wirkungsabsicht begründet liegt, wie Robert Nedoma anreißt, gilt als Gegenargument nur teilweise: Tatsächlich
geht es nicht unbedingt darum, dass die Namensinschriften sich in der Form entsprechen, sondern um die Nennung eines Namens überhaupt und ganz allgemein.
Schon von Odin, dem höchstgedachten Gott, sind über hundert weitere Namen, sogenannte Heiti, bekannt. Mit diesen Namen verhüllt er sich nicht nur optisch, sondern macht sein Wesen insgesamt für
seinen Gegenüber unkenntlich. Bei diesen Beinamen handelt es sich um magische Vorgänge des Verhüllens. Anstelle des Gottesnamen wird eine „kennzeichnende, ‚dingliche’ Bezeichnung” verwendet: „Dem
liegt wohl eine uralte religiöse Furcht zugrunde: der Name ist für den Germanen nicht ‚Schall und Rauch’, sondern persönliche Wesenheit” (Arntz, S. 193).
Inwiefern Runenritzer, die ihren Namen auf ähnliche Weise verhüllen wie Odin es tat, sich auf diesen Gott beziehen oder sich gar als seine Inkarnation verstehen (Marstrander, S. 244) muss
zweifelhaft bleiben. Auf dem Runenstein von Järsberg jedenfalls findet sich eine Inschrift, die in ihrer Formelhaftigkeit an Odins Namensnennungen im Grímnismál Strophe 46-49 erinnert (vgl.
Düwel, S. 36):
„Ub heiße ich, Hrabn heiße ich, ich Eril schreibe die Runen.”
Odin heiß ich nun,
Ygg hieß ich früher,
Thund hieß ich davor.
(Strophe 49, übersetzt nach Arnulf Krause)
Solch eine Namensverschlüsselung findet nicht nur dann statt, wenn der Runenritzer seinen eigenen Namen durch andere Namen oder Adjektive ersetzt, sondern auch, wenn er die Buchstaben so vertauscht, dass eine korrekte Lesung nicht mehr erfolgen kann. Robert Nedoma geht von solch einer „bewussten und tabuisierenden” Entstellug bei der Bügelfibel von Beuchte aus. Der dort stehende Name „buirso” ist unbekannt und versteckt wohl den dahinterstehenden Namen „Buriso” .
„In diesem Zusammenhang wird man darin wohl eine verhüllende Namensnennung in magisch-apotropäischer Absicht erblicken, durch die verhindert werden sollte, dass
ein(e) Unbefugte(r) durch die Kenntnis des wahren Namens Gewalt über die jeweilige Person (scil. den Runenmeister) bekommt – eine archaische Vorstellung, die u.a. aus dem Rumpelstilzchen-Märchen
bekannt ist.”
Robert Nedoma, Zur Problematik der Deutung älterer Runeninschriften – kultisch, magisch oder profan?, S. 45
Verschlüsselungen in Runenschrift liegen nicht nur für Namen vor. Auf dem Ring von Körlin beispielweise wird die Schutzformel Alu einmal ausgeschrieben und einmal codiert. Eine Verschlüsselung zum Zwecke, die Inschrift unlesbar für Dritte zu machen, schließt sich aus: Alu wurde ja bereits offen geschrieben. Düwel und Heizmann rechnen daher mit magischen Absichten:
„Da solche Codierungen nach unserem Verständnis weniger der Verschlüsselung von profanen Botschaften gedient haben (dazu ist das Verfahren für jeden
Runenkundigen zu leicht zu durchschauen), liegt die Annahme, dass sie wohl in erster Linie zu magischen Zwecken eingesetzt wurden, näher.”
Klaus Düwel und Wilhelm
Heizmann, Das ältere Futhark: Überlieferung und Wirkungsmöglichkeiten der Runenreihe, S. 19
Eine weitere Kategorie der Namensnennungen sind die Namen auf Waffenfunden wie wir sie etwa auf der Lanzenspitze von Dahmsdorf („Anrenner”) oder auf dem Lanzenblatt von Kowel („Zielreiter”) haben. Möglicherweise stehen solcherlei Namen mit dem germanischen Brauch in Verbindung, vor einer Schlacht einen Speer über das feindliche Heer zu werfen, um die Toten Odin zu weihen (vgl. Düwel, S. 31).In jedem Fall haben solche Inschriften etwas von einer Anrufung, einer Bitte nach Sieg und Heil, die sicherlich in den religiösen Bereich der Runeninschriften gehört. Dies gilt für Angriffswaffen wie Schwert und Lanze ebenso wie für Schutzwaffen wie Schilder.
Die kultische Herkunft der Runen
Dass schon der Name der Runen, der Geheimnis lautet, auf eine Kultschrift hindeutet, wurde oben bereits erwähnt. Den Gedanken an eine Gebrauchsschrift schließt er eigentlich aus.
Helmut Arntz vermutet, dass die Runen aus einem etruskischen Alphabet übernommen und in die damals schon bestehenden germanischen Kultzeichen eingegliedert wurden. Das Ergebnis war eine Schrift
mit deutlich norditalischem Vorbild, das eine Vielzahl von germanischen Glaubensinhalten in sich aufnimmt. Dementsprechend bildet das Futhark ein „umfassendes Bild [des Glaubens] und eine
bewusste Reihe[nfolge]” ab (Arntz, S. 149).
Die vorrunischen Kultzeichen, wie wir sie beispielsweise auf den Himmelstalunds Hällristningar (Felsritzungen) antreffen, treten in einer Übergangszeit Ralph W. V. Elliott zufolge gemeinsam mit
den Runen auf, sie vermischen sich also, ehe die Runen die Felsritzungen schließlich vollkommen ablösen.
Dementsprechend müssten auch die Runennamen kultisch sein. Während Helmut Arntz sie im Vanenkult, Ralph Elliott im indogermanischen Sonnenkult verankert, gibt es nach wie vor große Zweifel
an solchen Interpretationen.
„In der älteren Forschung hat man sämtlichen Bezeichnungen kultisch(-magisch)en Charakter unterschoben bzw. in den R[unennamen] eine Slg. relig. Kräfte gesehen
[…], doch finden derartige Verdikte heute keine große Zustimmung mehr. Bei einigen R[unennamen] sind relig. oder magische Qualitäten ziemlich unsicher, und bei anderen R[unennamen] (z.B. *raido-
‚Ritt, Fahrt, Wagen’, *gebo- ‚Gabe’) lassen sich nicht-profane Bedeutungen nur durch einige Gedankenakrobatik konstruieren.”
Robert Nedoma, RGA 25, S. 561
Ähnlich sieht es auch Helmut Birkhan, der nach Betrachtung der Runennamen sogar meint, „man ist geradezu versucht, in das andere Extrem zu verfallen und diese Buchstabennamen als mehr oder minder
willkürliche Erfindungen anzusehen, die eben nur die Aufgabe haben, den Graphemen nach dem Akrostichonprinzip einen möglichst deutlichen Wortkörper zu verleihen” (Birkhan, S. 83). Ganz so
gravierend müssen die Runennamen nicht gedeutet werden, die Fragestellung wird jedoch gründlicher im Artikel Runennamen analysiert.
Helmut Arntz glaubt, dass die erste Runenverwendung in den Bereich des Losorakels fällt. Dafür spricht, dass die Wörter, die das Aufnehmen von Runen beschreiben, stets „lesen” im Sinne von
„aufsammeln” oder „auswählen” (uppneman, lesan) sind. Lehnwörter für das Lesen tauchen erst in dem Moment auf, in dem die (christianisierten) Germanen die lateinischen Buchstaben übernehmen.
Magische Inschriften
Von Anfang an finden sich bei den Runeninschriften sowohl magische als auch profane Inschriften. Wie bereits oben angeschnitten, ist die Deutung häufig davon abhängig, welcher Vor-Einstellung der
Wissenschaftler anhängt. Bei dieser Diskussion werden insbesondere Futhark-Inschriften begutachtet, also Inschriften, die entweder die gesamte Runenreihe des älteren Futharks abbilden oder
zumindest einen Teil davon.
Von diesen Inschriften gibt es 15 Stück; sie reichen von Steininschriften über Fibeln bis hin zu Brakteaten. Klaus Düwel und Wilhelm Heizmann haben in einer gemeinsamen Forschungsarbeit
herausgestellt, dass der Großteil davon deutlich magischen Charakter zu haben scheint: Bei den Brakteaten gilt dies etwa für Schutzzauber, beim Stein von Kylver dagegen, da er offenbar einen
Toten ans Grab fesseln sollte, für einen Bannzauber. Diese Art der Totenmagie ist vielfach belegt, ebenso die germanische Angst vor Wiederkehrern und einer Vielzahl unterschiedlicher Methoden, um
Tote im Grab zu halten.
Eine genauere Betrachtung der magischen Inschriften wird im Artikel „Runenmagie” behandelt.
Schlussfolgerung
Nach diesen umfassenden Betrachtungen des Themas komme ich zu dem Ergebnis, dass eine Vielzahl von Hinweisen darauf deutet, dass es sich bei der Runenschrift von Anfang an um eine Kultschrift
handelte und somit religiöse, aber auch magische Zwecke verfolgt wurden. Das wird nicht nur durch Quellen aus dem Mittelalter und eindeutig magische Runenfunde nahegelegt, der Verdacht wird auch
durch die sehr schlüssige Theorie Helmut Arntz’ zur Herkunft der Runenschrift erhärtet.
Das Material und die Gegenstände der Inschriften des älteren Futharks legen trotz ihrer mitunter anmutenden Banalität einen kultischen Zweck der Runenschrift nahe: Waffen, am Körper getragene
Broschen und Fibeln sowie zahlreiche Brakteaten, deren Amulettcharakter gesichert ist, sprechen für einen Schutzcharakter der Gegenstände. Bannformeln bei Grabsteinen wie dem Stein von Kylver
kommen hinzu.
Bei den Runenfunden der älteren Runenperiode handelt es sich inhaltlich neben ausgeschriebenen oder verkürzten Futharkreihen größtenteils um Namensinschriften, bei denen es unsicher ist, ob sie
profan oder magisch zu deuten sind, sowie um eindeutige Schutzformeln.
Runeninschriften mit Namen als profane Inschriften deuten zu wollen, kann nach den vorhergehenden Betrachtungen meines Erachtens allerdings ausgeschlossen werden. Vielmehr liegt dahinter eine
undifferenzierte Betrachtung von unserer modernen Sichtweise aus auf vergangene Vorstellungswelten. Heutzutage mag ein Name für uns banal und bedeutungsarm sein, von den Germanen ist aber
gesichert, dass sie die Benennung eines Wesens oder eines Menschen als mächtig empfanden. Mit dem Namen glaubten sie, dass Herrschaft über den Mensch oder das Wesen ausgeübt werden konnte.
Unter diesem Aspekt ist es nicht sinnvoll, Namensinschriften zu den profanen Inschriften zu zählen, ja sie gar als Beweise gegen eine ursprünglich kultische Funktion der Runenschrift ins Feld zu
führen.
Die dagegen deutlich in der Minderheit auftretenden Funde, die tatsächlich als profan gelten können, erscheinen mir nicht ausreichend, um der Runenschrift ihren anfangs kultischen Status
abzusprechen.
Quellen
Arntz: Arntz, Helmut: Handbuch der Runenkunde. Edition Lempertz, Königswinter 2007 (1944).
Birkhan: Birkhan, Helmut: Keltisches in germanischen Runennamen. In: Ergänzungsbände zum RGA 51: Das Fuþark und seine einzelsprachigen
Weiterentwicklungen. Hrsg. Alfred Bammesberger, Gaby Waxenberger, Walter de Gruyter Verlag, Berlin & New York 2006.
Düwel und Heizmann: Klaus Düwel und Wilhelm Heizmann, Das ältere Futhark: Überlieferung und Wirkungsmöglichkeiten der Runenreihe. In: Das Fuþark
und seine einzelsprachigen Weiterentwicklungen. Hrsg. Alfred Bammesberger, Gaby Waxenberger, Walter de Gruyter Verlag, Berlin & New York 2006.
Düwel: Düwel, Klaus: Runenkunde. Verlag J.B. Metzler, Stuttgart Weimar 2008.
Elliott: Elliott, Ralph W. V.: Runes. An Introduction. Manchester University Press, St. Martin’s Press New York 1989 (1959).
Krause: Krause, Arnulf. Die Götterlieder der Älteren Edda. Reclam, Stuttgart 2006.
Krause: Krause, Arnulf: Runen. Marixverlag, Wiesbaden 2017.
Marstrander: Marstrander, Carl: De nordiske runeinnskrifter i eldre alfabet. Skrift og sprik i folkevandringstiden. I. Danske og svenske
innskrifter, in Viking (1952), Nr. 16, S. 1-277.
Nedoma: Nedoma, Robert: Zur Problematik der Deutung älterer Runeninschriften – kultisch, magisch oder profan? In: Ergänzungsbände zum RGA 15:
Runeninschriften als Quellen interdisziplinärer Forschung. Hrsg. Klaus Düwel, Walter de Gruyter Verlag, Berlin & New York 1998.
Page: Page, Raymond Ian: An Introduction to English Runes. Boydell Press, London Methuen 1973, Seite 13f.
RGA: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde Bd 25. Walter de Gruyter Verlag, Berlin & New York .
Roth: Roth, Helmut: Runenkunde und Archäologie. In: Ergänzungsbände zum RGA 10: Runische Schriftkultur in Wechselbeziehung. Hrsg. Klaus Düwel,
Walter de Gruyter Verlag, Berlin & New York 1994.
Seebold: Seebold, Elmar: Die sprachliche Deutung und Einordnung der archaischen Runeninschriften. In: Ergänzungsbände zum RGA 10: Runische
Schriftkultur in Wechselbeziehung. Hrsg. Klaus Düwel, Walter de Gruyter Verlag, Berlin & New York 1994.
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