Mit Vorliebe verweisen moderne Forscher in ihren Arbeiten darauf, dass uns zur Verfügung stehende Quellen für die Religion der Germanen zu großen Teilen aus der Hand von Christen stammen. Dabei
vergessen sie vielfach, dass auch sie selbst aus einer gewissen Tradition stammen und ebenso wie ein Snorri Sturluson ihrer Zeit und Erziehung unterworfen sind.
Mag man auch einräumen, dass die Forschung heutzutage um Objektivität bemüht ist, muss man doch eingestehen, dass diese Bemühungen allein nicht davor feihen, Interpretationsfehler von Quellen zu
begehen, indem man gewisse Dinge voraussetzt, die nicht vorausgesetzt werden können.
Die Problematik versuche ich anhand des Begriffs Religion zu erläutern.
„Religion” wird heute für allerhand verwendet. Wikipedia erklärt es etwa wie folgt:
„Religion (von lateinisch religio ‚gewissenhafte Berücksichtigung‘, ‚Sorgfalt‘, zu lateinisch relegere ‚bedenken‘, ‚achtgeben‘, ursprünglich gemeint ist „die gewissenhafte Sorgfalt in der Beachtung von Vorzeichen und Vorschriften.“) ist ein Sammelbegriff für eine Vielzahl unterschiedlicher Weltanschauungen, deren Grundlage der jeweilige Glaube an bestimmte transzendente (überirdische, übernatürliche, übersinnliche) Kräfte ist, sowie häufig auch an heilige Objekte. Das Heilige und Transzendente ist nicht beweisbar im Sinne der Wissenschaftstheorie, sondern beruht auf intuitiven und individuellen Erfahrungen bestimmter Vermittler (Religionsstifter, Propheten, Schamanen). Deren spirituelle Erfahrungen werden in vielen Religionen als Offenbarung bezeichnet. Spiritualität und Religiosität sind geistig-geistliche Anschauungen. Skeptiker und Religionskritiker suchen demgegenüber nach rationalen Erklärungen.”
Wikipedia
Diese Definition untermauert das Verständnis, das die meisten Menschen von dem Begriff Religion haben. Tatsächlich verschleiert sie aber die Wurzel der Religion und bestärkt somit die
Fehlinterpretation.
Das lateinische „religio” wurde nicht für die römische Staatsreligion verwendet, sondern stand für die Einhaltung gewisser überlieferter Normen der Sittsamkeit. Religion im Sinne eines
Glaubenssystems wurde erst von den Christen geprägt, namentlich von Augustinus von Hippo, der sein Werk „De vera religione” nannte. Das ist auch die Praxis, die seither besteht: Die vera
religione ist identisch mit der christlichen Lehre, das Christentum verwendet sie einzig, um sich selbst zu beschreiben. Der Begriff „Religion” ist daher von unmissverständlicher Prägung und
wurde erst in jüngerer Zeit auf sämtliche Glaubensvorstellungen und spirituelle Traditionen übertragen.
Dies mag im ersten Moment wenig besorgniserregend sein, tatsächlich birgt es aber eine nicht zu unterschätzende Gefahr, wenn dermaßen stark eingefärbte Begriffe kritiklos für völlig andere
Konzepte übertragen werden. Dieser Übertragung mag es beispielsweise auch geschuldet sein, dass die im Begriff Religion implizierten Ansichten, auf andere Ansichten übertragen werden: Die Idee
einer Glaubenslehre, einer Gottheit, vielleicht sogar einer institutionellen Hierarchie, ganz zu schweigen von einer Hierarchie zwischen Gott, Mensch und Tier.
All diese Stichwörter stehen in direkter Verbindung mit dem Wort Religion, nicht aber mit all den Vorstellungen, die mit dem Wort Religion bezeichnet werden. Nicht alle „Religionen” haben eine
Gottheit im Zentrum (Buddhismus) und sehr viele Naturreligionen entbehren Glaubenslehren und Hierarchien jeglicher Art.
Der Begriff „Priester”
Mag man auch diese Ungenauigkeiten nicht weiter besorgniserregend finden, so sollte das spätestens der Fall sein, wenn aus demselben Grund Wörter wie „Priester” schlichtweg übernommen werden.
Nicht selten findet man in Büchern über die germanischen spirituellen Traditionen diesen Begriff, mit dem die Rolle eines Goden erklärt werden soll. Tatsächlich setzt das Wort Priester aber
bereits eine ganze Menge an Aufgaben voraus, die man so dem Goden überstülpt. Anstatt daran zu forschen, was ein Gode überhaupt war, wird die Sache umgedreht und man definiert, was er nicht war,
worin er sich vom Priester, ein Titel, der ihm aufgezwungen wurde, unterschied.
Arnulf Krause schreibt etwa unter der Überschrift „Priester und Priesterinnen” in seinem Buch über die germanische Mythologie:
„Aus späteren Zeiten blieben sogar Bezeichnungen germanischer Priester erhalten. Von den Angelsachsen wurden sie als æweweard (althochdt. êwart) bezeichnet, was soviel wie „Gesetzwart” bedeutet. Demzufolge nahmen sie mehr als ein halbes Jahrtausend nach Tacitus immer noch Aufgaben auf den Volksversammlungen wahr. Dass Priesteramt und politischer Einfluss eine Verbindung eingingen, bezeugen die skandinavischen Goden […]. In den Isländersagas schimmert ab und an ihre ursprüngliche priesterliche Aufgabe durch, die sie etwa zu Opferzeremonien auf ihren Höfen verpflichtete. Von heidnischen Priestern der Angelsachsen berichtet Beda Venerabilis aus Nordengland. Im Zusammenhang mit der Taufe König Edwins von Northumbrien um das Jahr 630 erwähnt er eingehende Beratungen des Herrschers mit seinen Witan, worunter weise Ratgeber verstanden wurden.”
Hier wird sehr deutlich, dass Krause von gewissen „typischen, priesterlichen” Aufgaben bereits ausgeht, obwohl die Quellen zum gleichen Teil auf politische Funktionen schließen lassen. Der
Politik wird eine Zusatzaufgabe neben den „priesterlichen Aufgaben” zugerechnet, obwohl im Begriff Gode offensichtlich beides miteinander vereint gewesen sein scheint. Im Kopf des Lesers entsteht
vielmehr das Bild eines politbesessenen, vielleicht sogar machthungrigen Priesters, der Herrschaft und Ansehen an sich reißt, ähnlich wie spätere christliche Bischöfe in der abendländischen
Politik. Hierbei werden aber ausschließlich Interpretationen und jüngere (!), definierende Begriffe auf vorher bestehende Zeiten zurückgelegt und nachträglich angewandt, was der Bedeutung eines
Goden unmöglich gerecht werden kann.
Auch Simek verwendet in seinem Lexikon der germanischen Mythologie das Wort Priester ohne nähere Erläuterungen, was genau damit gemeint ist.
„Goden. Im Altnord. ist goði, (Plural goðar) die Bezeichnung für den Priester und Häuptling, die Sagas nennen heidn. Priester oft auch hofgoði („Priester eines Hof”); seine Funktion und sein Machtbereich heißen goðorð. […] Allerdings dürften in Dänemark die G. nie die Bedeutung von selbstständigen politischen Führern wie in Norwegen und Island erreicht haben. Aus den isländischen Quellen erfahren wir sehr wenig über die religiöse Rolle der G. und ihre Aufgaben im Kult — denn die wenigen Angaben über den Bau oder die Erhaltung eines Hof sind gelehrte Rückprojektion des isländischen Eigenkirchensystems. Umsomehr treten die G. in den Sagas als Häuptlinge ihrer Bezirke auf und stellten in Island die eigentliche politische Führerschicht dar.”
Ist unter einem hofgoði ein „Hofpriester” oder ein „Hofherr mit kultischen Befugnissen und Aufgaben” gemeint?
Und unter dem Stichwort „Priester”:
„Priester bei den Germanen erwähnt schon Tacitus (Germ. 7, 10, 11, 40) [als „sacerdos”, Anm. Eichenstamm]. Im Althochdt. könnte êwart (angelsächs. æweweard),
obwohl es eigentlich „Gesetzeswart” bedeutet, P. Bezeichnet haben, da es in Glossen für das latein. sacerdos zu finden ist.
In Skandinavien ist goði die übliche Benennung für den heidn. P. […]. Diese skandinavischen Goden hatten, vor allem in Island, zunehmend auch weltliche
Funktionen und sind dann eine Art von Bezirkshäuptling.
Im german. Altertum dürften Seherinnen eine priesterl. Rolle erfüllt haben, für die spätheidn. Zeit geben unsere Quellen über Priesterinnen kaum Auskunft
[…].”
Bemerkenswert ist an dieser Stelle, dass unter dem Stichwort „Seherinnen” Simek selbst auf jegliche Erwähnung von „Priester” oder „priesterlich” verzichtet und die Aufgaben einer Seherin einzig
mit Zauberei und mitunter weltlich-beratenden Funktionen beschreibt. Wo genau ist hier ein priesterliches Element zu finden?
Was also soll eine „priesterliche Rolle” sein? Wie kommt dieser verwaschene Begriff immer wieder dazu, germanische Goden zu beschreiben ohne letztendlich tatsächliche Tätigkeiten zu nennen?
Einzig bei Krause werden vor dem zitierten obigen Absatz einige Aufgaben genannt:
„Ihm [Tacitus] zufolge sei es nur Priestern erlaubt, jemanden hinzurichten, zu fesseln und zu schlagen. Dabei handelten sie gleichsam auf Geheiß der entsprechenden Gottheit. Außerdem käme ihnen für den Krieg die Aufgabe zu, aus den heiligen Hainen Bilder und Zeichen mit in die Schlacht zu nehmen. Des weiteren vollziehen sie das öffentliche Orakel, sorgen auf den Thingversammlungen für Ruhe und begleiten unter den Stämmen an der Ostseeküste den heiligen Wagenumzug der Göttin Nerthus.”
Auch diese Tätigkeiten müssen nicht zwangsläufig „priesterlich”, sondern können durchaus weltlicher Natur sein, sofern germanische Herrscher mit Kultaufgaben ausgestattet waren. Das würde sie
aber darum nicht gleich zu Priestern machen — immerhin würden sie in diesem Fall ihre Aufgaben nicht kultischem Wissen, sondern ihrer hohen Geburt beziehungsweise ihrem gesellschaftlichen,
weltlichen Stand verdanken. Alles nur Spekulationen, die deutlich machen sollen, wie unterschiedlich die Quelleninterpretation aussehen kann, wenn man sich von einem schlichten Begriff
löst.
Bemerkt sei an dieser Stelle, dass Snorri eine Gegebenheit aus Norwegen überliefert, nach der der christliche König Hakon sich weigerte, die Opferfeste von Trondheim zu leiten, was an seiner
Stelle der Jarl übernahm. Bei einem Julfest allerdings zwangen die Männer den König, Pferdeleber zu essen und die traditionellen Gedächtnisbecher zu trinken. Sie nahmen nämlich an, dass die
Großzügigkeit des Herrschafts beim Opfern darüber bestimme, wie gut das folgende Jahr würde. Außerdem sahen sie in einem König, dem Heil beschert war, einen von den Göttern legitimierten
Herrscher (Krause 2015).
Betrachtet man den Begriff „Priester” aber genauer, so wundert man sich weiter über seine exzessive Verwendung:
- (in vielen Religionen) als Mittler zwischen Gott und Mensch auftretender, mit besonderen göttlichen Vollmachten ausgestatteter Träger eines religiösen Amtes, der eine rituelle Weihe empfangen hat und zu besonderen kultischen Handlungen berechtigt ist
- katholischer Geistlicher, der die Priesterweihe empfangen hat
Duden
Mittler zwischen Gott und Mensch? Göttliche Vollmachten? Rituelle Weihe?
Wird irgendeiner dieser im Begriff „Priester” implizierten Bedeutungen in den Quellen, die wir zu den Goden haben, explizit genannt? Oder interpretiert man den Goden lediglich auf diese Weise,
weil man ihm mit „Priester” dechiffriert?
Tragen solche Definitionen am Ende einen Teil der Schuld, wenn sich manche moderne Heiden als „Allsherjargoden” bezeichnen, die „ausgebildeter und geweihter
heidnischer Priester” sind? (Germanische Glaubens-Gemeinschaft) Kann von einer Ausbildung bei Goden ausgegangen werden, deutet irgendetwas darauf hin? Oder ist es allein der
Begriff Priester, der uns glauben lässt, er müsste eine Weihe und dementsprechend eine Vorbereitung erhalten haben?
Schon für die Wissenschaft sind diese Art der Zirkelschlüsse ein peinlicher Fehltritt, wo ansonsten immer auf größtmögliche Quellentreue und Objektivität Acht gegeben wird. Doch insbesondere als
Anhänger der Alten Sitte müssen wir aufpassen. Denn angenommen die Funktion eines Goden war tatsächlich größtenteils politisch und nur in Teilen kultisch, angenommen sein Status war in erster
Linie, dass er Herr über ein Stück Land war und somit berechtigt, das Opfer auszuführen (und vielleicht erst später mit weiteren kultischen Vorzügen), angenommen dementsprechend konnte jeder Mann
und vielleicht auch jede Frau rituelle Handlungen vollziehen und war genauso „Mittler zwischen Gott und Mensch” — was bedeutet das für unsere moderne Ausübung unserer Spiritualität? Was bedeutet
das für einen modernen Goden?
Quellen
Krause: Krause, Arnulf. Die Götter und Mythen der Germanen, Marixverlag, Wiesbaden 2015, S.145-6.
Simek: Simek, Rudolf. Lexikon der germanischen Mythologie, Alfred Kröner Verlag Stuttgart 1984., S. 134, 318 und 346-7.
Duden: Duden - Priester, aufgerufen am
09.02.2018.
Germanische Glaubens-Gemeinschaft: Webseite der
Germanischen Glaubens-Gemeinschaft, aufgerufen am 09.02.2018.
Wikipedia: Wikipedia - Religion, aufgerufen am 09.02.2018 .
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Nachtsegler (Samstag, 22 Dezember 2018 12:44)
Er braucht Charisma, Wissen - und Gefolgschaft.
Eichenstamm (Donnerstag, 27 Dezember 2018 16:24)
Wen meinst du?
Nachtsegler (Donnerstag, 17 Januar 2019 19:21)
Na, du endest doch mit einer (rhetorischen?) Frage, oder?
Eichenstamm (Freitag, 18 Januar 2019 10:36)
Ach, entschuldige, ich war mir nicht sicher, worauf du dich bezogen hast, weil ich den letzten Satz nicht mehr im Blick hatte.
Wie du hervorhebst - ich denke Gefolgschaft würde einen modernen Goden tatsächlich auszeichnen.
Sowas trifft nur leider auf viele Individuen der mir recht verhassten modernen Heidenszene zu, die sich selbst als Goden o.Ä. titulieren.
Nachtsegler (Samstag, 02 März 2019 09:15)
Das ist leider richtig. Wichtig ist hier demnach das Unterscheiden des Was unter gleichzeitiger Betrachtung des Wie.
Eichenstamm (Samstag, 02 März 2019 19:01)
Dem könnte ich so zustimmen, ja ...