Es war niemals eine vernünftige, ja nicht einmal bewusste Erwägung, die mich stets zu der konservativen Seite der Alten Sitte gezogen hat. Mit konservativ ist an dieser Stelle nicht gesellschaftskonservativ gemeint, sondern daran festhaltend, was »früher« war; oder was wir glauben, was war. Vielmehr war es Intuition, das Gefühl, dass ich mich den Göttern annähern muss, nicht die Götter durch Gedankenakrobatik an mich. Die Götter finden sich in der Natur? Dann gehe öfter in die Natur, um sie dort zu suchen.
Historische Rituale und alte Traditionen
Allerdings stellen sich auch bei diesem konservativen Weg die Rituale als Problem dar. Anders als bei der Modernisierung geht es bei der Rekonstruktion nicht darum, die Inputs, welche das Ritual
gibt, zu übersetzen und anzupassen, sondern die historischen Gegebenheiten auf die tatsächliche Machbarkeit und Legalität hin zu überprüfen und gegebenenfalls durch andere Schritte zu ersetzen.
Bestes Beispiel hierfür ist ausgerechnet der zentrale Kern vieler Rituale, nämlich das Opfer: Tieropfer schließen sich für viele aus moralischen Gründen aus, ganz legal ist es ebenfalls nicht.
Von Menschenopfern ganz zu schweigen. Sein eigenes Blut zu opfern ist eine Alternative, müsste spirituell aber hinterfragt werden: Wenn das Opfer nicht geschlachtet, sondern auf sich selbst
bezogen wird, welche negativen Auswirkungen können daraus entstehen? Die dritte Möglichkeit, von Blutopfern völlig abzusehen, führt zu der Frage, welches unblutige Opfer auch nur einen annähernd
großen Effekt erwirkt.
Etwas banaler ist die Frage nach Feuer. Nicht nur, dass offenes Feuer an vielen Orten verboten ist, auch hat dieses Verbot meist einen guten Grund und gerade im Sommer ist eine Überschreitung
solcher Gesetzmäßigkeiten ein Risiko für die Natur. Von all jenen unter uns, die mit Lagerfeuern keine Erfahrung haben, einmal ganz zu schweigen. Und auch Feuerschalen hat nicht jeder so leicht
zur Hand – und leicht zu transportieren sind sie erst recht nicht, vor allem in ein abgelegenes Waldstück.
Und was geschieht mit dem Inhalt des Rituals? Sollen Erntedankfeste stur übernommen werden, weil man sie damals feierte? Auch wenn sie heute keinen Zweck mehr verfolgen?
Ich stamme aus einem Dorf, in welchem auf solcherlei Riten immer Wert gelegt wurde, wenn mittlerweile auch in einem christlichen Milieu. Auch wenn es niemals zu solch großen Ernteausfällen kommt,
dass jemand Hunger fürchten müsste, sind Hagel, Dürre, Kälteeinbrüche und Schädlinge Bedrohungen, die jedes Jahr wiederkehren und nicht selten finanzielle Einbußen bedeuten. Meine Familie besitzt
keine fruchtbare Erde mehr, dennoch ist Anbau und Ernte ein immerzu präsentes Thema in der ganzen Dorfgemeinschaft.
Neben dem jährlichen Erntedankfest stehen schließlich auch ein mittelalterlicher Faschingsumzug mit vorchristlichen Wurzeln sowie eine Krampusnacht mit ebenfalls deutlichem Fruchtbarkeitsbezug.
Beide Ereignisse sind alte Traditionen (bezeichnenderweise wurden sie ausgerottet und wieder neu eingeführt – ähnlich wie die Alte Sitte), und allein dieses traditionsstiftende Element genügt, um
sie am Leben zu halten. Natürlich ist der Fruchtbarkeitsgedanke nicht mehr so aktuell, wie er einmal gewesen sein mag, Tatsache ist jedoch, dass er vorhanden und allen wohlbekannt ist.
Man kann also festhalten: Ernte und Fruchtbarkeit sind nicht per se in unseren Sitten ausgestorben, sondern hängen einerseits stark von den lokalen Gegebenheiten und andererseits von der eigenen
Realität ab. Jemand, der im ländlichen Gebiet mit bestenfalls starken historischen Wurzeln aufwächst, wird zu diesen Thematiken einen anderen Bezug haben, als jemand, der in der Stadt lebt und
seine Nahrungsmittel gewöhnlich im Supermarkt, nie beim Nachbarn holt.
Bezeichnend ist allerdings, dass gerade in diesen ländlichen Gegenden mitunter auch die vorchristlichen Bräuche überlebt haben, sehr häufig zumindest christliche Fruchtbarkeitsriten. Vielleicht
ist es daher verständlich, wenn ich, die ich aus so einem Kontext stamme, einen Teufel tun werde, um meinen Glauben an diese Fruchtbarkeits- und Naturgötter in einen neuen Kontext zu verfrachten,
zu modernisieren. Ganz im Gegenteil – ich sehe doch, wie lebendig, fesselnd und berauschend diese »heidnischen« Praktiken sein können.
Die Abhängigkeit von der Natur
Das ist also der Grund, nochmal unterstreichend, warum ich für eine Rekonstruktion, nicht für eine Modernisierung der Alten Sitte stehe. Und dennoch, auch wenn meine Herkunft näher am »Original«
stehen mag, als jemand, der in der Stadt lebt, so ist sie natürlich dennoch nicht einmal in Sichtweise eines Germanen, der von der Natur vollkommen abhängig war, bei dem es noch kein Internet und
keine Autos gab und dessen Selbstbild noch nicht so ausdifferenziert war, wie es mein heutiges ist.
Es ist keine Frage, dass ich niemals dieses »Ideal« erreichen und die Welt so sehen werde, wie es ein Germane tat. Das ist auch kein Ziel meinerseits. Andererseits stellt sich die Frage,
inwiefern man sich diesem Ideal annähern kann – zumindest so weit, dass die Einflussbereiche der Götter und der Lebensbereich des Menschen wieder Berührungspunkte finden, die eine langfristige
Beziehung ermöglichen.
An dieser Stelle ist meine Antwort, dass wir uns von der Natur abhängig machen müssen. Das heißt nicht, dass wir in einen Wald ziehen und dort von der Hand in den Mund leben müssen. Auch nicht,
das man tapfer den Tod empfängt, wenn der Gemüsegarten hinterm Haus nichts mehr hergibt.
Nein, aber wer einen Bezug zu Göttern finden möchte, die für Natur, Fruchtbarkeit und periodische Erneuerung stehen, dann ist es in meinen Augen unabdingbar, sich der Natur anzunähern. Ganz
konkret heißt das, ein Heim dort zu suchen, wo man nahe an der Natur lebt. Sich um eine eigene Wirtschaft bemühen (Gemüsegarten, Nutztierhaltung, und seien es nur Hühner) und somit auch
Umweltschutz betreiben, indem man lange Transportwege von Lebensmittel vermeiden kann. Bewusst hinterfragen, auf welche Luxusgüter man verzichten kann beziehungsweise für welche man selbstständig
sorgen kann. Ein Holzofen mag nicht umweltfreundlicher sein als die modernen Hightech-Heizungen aus erneuerbarer Energie, aber die selbstständige Holzanschaffung (nicht der Ankauf von Pellets)
bringt ein Bewusstsein von der Abhängigkeit der Natur zurück, das meines Erachtens einer Beziehung zu den Göttern zugutekommt.
Dies hat noch einen zweiten Effekt: Je stärker man in die Beschaffung und Verarbeitung seiner eigenen Lebensmittel und Ressourcen eingebunden ist, desto stärker ist der Bezug dazu. Ein starker
Bezug schafft emotionale Bindung – und das wirkt sich nicht nur positiv auf die Verbindung zu den Göttern aus, sondern auch zu dem eigenen Selbst: Hier kehrt das Prinzip der Resonanz
wieder.
Sobald dieser Bezug allerdings da ist, sobald man von dem lebt, was man selbst erarbeitet hat, und sobald man das Huhn, das man kocht, selbst geschlachtet hat, weiß man, welcher Wert darin
steckt. Es ist nicht länger eine Rechnung in Geldmünzen, sondern in Wertschätzung des eigenen Tuns. Und hier macht es plötzlich wieder Sinn, den Göttern dafür zu danken und ihnen einen Teil
dieses erarbeiteten Wohlstandes abzugeben.
Ich frage also nochmal: Ist eine Rückkehr der Alten Sitte möglich, wenn der moderne Mensch einen Schritt zurücktritt und die Abhängigkeit der Natur sucht (zumal man sich in diesem Schritt
zeitgleich von einer Abhängigkeit verschiedenster Konzerne löst)?
Meine persönliche Antwort ist: Ja. Auf diese Weise ist eine Annäherung an die Götter prinzipiell möglich. Aber:
Erstens kann diese Antwort nur für diejenigen gelten, für die solch ein naturnahes und »einfacheres« Leben überhaupt infrage kommt. Wer das von vorneherein ausschließt und das Opfer nicht zu
bringen bereit ist, der kann entweder auch diese Frage verneinen und akzeptieren, dass die Alte Sitte für ihn auf Dauer keine Option sein wird, oder aber er geht zurück zum ersten Punkt, zur
Modernisierung, und überlegt, wie er diesen Weg erfolgreich bestreiten kann.
Zweitens wird weder die Entscheidung, so ein naturnahes Leben zu führen, noch die tatsächliche Ausrichtung danach alleine genügen, um in die Alte Sitte quasi von selbst einzutauchen. Wir sind und
bleiben moderne Menschen, deren Weltbild sich in höchstem Maße von den alten Germanen unterscheidet. Der Aufbau eines Kultes bleibt auch an dieser Stelle Schwerstarbeit und kann vielleicht nur
nach Generationen erfolgreich bewältigt werden.
Am Ende dieses Artikels möchte ich noch einmal betonen, dass dies allein meine Sicht der Dinge widerspiegelt. Viele der hier gezogenen Schlüsse werden nicht auf jeden ohne weiteres anwendbar
sein. In erster Linie dient er daher zur Gedankenanregung – und soll niemandem das Nachsinnen über seine eigene Situation abnehmen.
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