Modernisierung

Geht es darum, den Kult der Alten Sitte zu modernisieren, wird der heutige Mensch in den Mittelpunkt gestellt. Da er es ist, der den Kult ausüben soll und seine spirituellen Schwingungen zählen, gibt es gute Gründe dafür. Nicht der genaue Ablauf des Opfers, sondern die emotionale Anspannung des Ausführenden ist vermutlich das, was am Ende zählt.

Eine Modernisierung muss dennoch behutsam ablaufen. Viel zu vorschnell wäre es, wenn einfach altertümliche Ritualgegenstände durch moderne Technologien ausgetauscht würden, es würde den Zweck auf allen Ebenen aushebeln.
Jemand, der den Kult modernisieren möchte, muss tief in die Subebene der alten Rituale eintauchen und sich damit auf sämtlichen Ebenen befassen. Dies ist in vielerlei Hinsicht schwierig: Einerseits sind die Rituale uns meist nur bruchstückhaft beziehungsweise aus stark eingefärbter Perspektive überliefert. Wir besitzen also nicht das Gesamtbild, was jede Interpretation zwangsläufig einschränkt. Andererseits ist eine umfassende Bildung vonseiten desjenigen zwingend, der das Ritual modernisieren möchte. Er muss genau wissen, welche symbolische Bedeutung einzelne Gegenstände, Gesten und Worte haben, er muss den offensichtlichen Grund und den unterschwelligen Grund des Rituals kennen und entschlüsseln und er muss den alten Blick der Germanen entziffern und für den modernen Geist zugänglich machen. Dafür ist mindestens historisches, soziologisches, anthropologisches, kultur- und religionswissenschaftliches Basiswissen nötig – und es muss nicht explizit gesagt werden, dass solch eine umfassende Grundbildung, ja auch nur eine Ahnung dieser Thematiken, kaum jemand derer hat, die bisher versucht haben, die alten Rituale zu modernisieren.
Eine Modernisierung eines Rituals ist also nicht so leicht getan, wie viele denken. Tatsächlich wird stattdessen häufig der eigentlich bedrohlich-erhabene Charakter ausgehebelt, übrig bleibt eine leere Hülle.

Aktuelle Modernisierungen von Ritualen

Das Bild, das heutzutage die Ritualpraxis der gängigsten »Heidengruppierungen« zeichnet, fällt genau in dieses Schema: Neues wird in die Rituale manchmal bewusst, manchmal vollkommen unbewusst integriert, Altes in dem gesamten Komplex wie ein Fremdkörper erhalten, der eher lächerlich als erhaben wirkt.
Alles in allem durchdringt diese modernen Rituale zumeist ein Bild von Naivität und blinder Motivation: »Wir machen es einfach!«
Alt anmutende Gegenstände, die sich auf jedem Mittelaltermarkt finden lassen, fehlen bei solchen Ritualen zumeist nicht und stärken den angeblichen Rückbezug auf das Alte: Trinkhörner, deren Herkunft keiner kennt und die zu oft aus Afrika oder Indien importiert werden, pseudo-authentische Waffen wie Schwerter, welche eher in das 13. denn in das 8. Jahrhundert (oder früher) gehören, oder Äxte, deren Zweck ein rein dekorativer ist. Außerdem Kerzen, die in dieser Form weder bei Germanen noch Wikingern existierten, Felle von Tieren, die niemals selbst erlegt wurden, sondern das Pech hatten aufgrund von Massenjagd auf einem Markttresen zu landen und dort zu einem vornehmlich »korrekten« Preis verkauft zu werden. Massenweise kleinere Metallgegenstände, Anhänger von Yggdrasil oder Mjölnir, die in Onlineshops erstanden wurden, ein Samtbeutelchen mit einem als Massenware gefertigten Runenset (garantiert handgemacht!). Ganz zu schweigen von all den guten Opfergaben, Äpfeln und Brot, teilweise sehr hübsch angerichtete Obstkörbe, Federn, irgendwelche Gegenstände, die für irgendjemanden im Kreis eine besondere Bedeutung haben.
Darüber hängt die immer wiederkehrende Diskussion: Schlagen wir selbst die Trommel und geht auch eine MP3? Wardruna und Heilung lassen doch so eine herrlich mystische Atmosphäre entstehen, wie es eine einzelne Trommel gar nicht kann.

Nein, das hier beschriebene Ritual ist zwar omnipräsent in deutschen Ásatrú-Ritualgruppen, aber es ist ganz bestimmt nicht das, was ein gut durchdachtes Ritual ausmacht. Es passt weder in die moderne noch in die altertümliche Schiene, es ist ein bunter Mix von Esoterikern, die einfach nur all die Inspirationen mischen, die sie über Jahre hinweg auf verschiedenen Märkten und in verschiedenen »Schamanen«-büchern aufgelesen haben.

Ein modernes Ritual, das im Menschen etwas zum Anklang bringen soll, müsste sich eine ganz andere Frage stellen: Wofür stand ein Tierpelz früher und was kommt dieser Bedeutung heute nahe? Welches Trinkgefäß passt am ehesten in Anbetracht aller Umstände? Welche sprachliche Form, welche Gesänge muss so ein Ritual umfassen, damit es packt? Passt wirklich ein an kirchliche Lieder angelehnter Singsang?
Von den Ritualvorschlägen, die in diesen Kreisen kursieren, und die sich in beschämender Deutlichkeit an die christliche Messe anlehnen, möchte ich an dieser Stelle gar nicht beginnen. Fest steht, dass eine Modernisierung von Ritualen ein großes Vorhaben ist, das nicht einfach vonstatten geht, wenn man hier und da ein paar Elemente austauscht.
Persönlich habe ich große Schwierigkeiten dabei, mir solch ein Ritual auszudenken, vorzustellen. Es krankt in meinen Augen an einer ganz anderen Stelle, an einer weit früheren Stelle, noch ehe man mit dem Ritual überhaupt beginnen sollte. Die Frage, die zuerst überlegt werden sollte, ist: Warum mache ich dieses Ritual?

Die Inhalte eines Rituals

Zu der Forderung nach einer Modernisierung der Rituale tritt oft auch der Vorschlag, den Inhalt derselben zu überdenken. Beispielsweise ergäbe laut dieser Stimmen ein Erntedankfest in unserer Gesellschaft, die so reich an Nahrungsmitteln und so unabhängig von einer eigenen Agrarwirtschaft ist, nur wenig Sinn. Warum sollte man für eine Ernte danken, an deren Ausfall ohnehin nicht mehr zu denken ist?
Es müssten also Lebensumstände und Situationen herausgearbeitet werden, die den modernen Menschen beschäftigen und die in den Zuständigkeitsbereich der Götter fallen. Angst vor Stromausfall fällt daher meines Erachtens aus Prinzip weg. Was sonst sind Ängste, die uns beschäftigen? Arbeitslosigkeit? Inflation? Das Dahinscheiden geliebter Menschen?
Der Grundgedanke ist vermutlich goldrichtig: Um den Leuten eine emotionale Bindung zur Asentreue zu bieten, muss der Kult etwas mit ihrem Leben zu tun haben. Glaube greift häufig dort, wo andere Hoffnungsträger versagen. Ein Glaube, der also nicht unterstützend eingreifen kann, wo Menschen Probleme mit ihrem Leben bekommen, wird nur einen kleinen Stellenwert in ihrem Leben einnehmen und schließlich ganz daraus scheiden.
Wir müssen also Überschneidungen zwischen unseren alltäglichen, modernen Problemen finden, die in irgendeiner Weise in den Zuständigkeitsbereich dieser alten Götter fallen. Natürlich können wir die Götter darum bitten, uns Arbeit zu verschaffen, endlich die Liebe unseres Lebens kennenzulernen, unsere Eltern von einer schweren Krankheit zu heilen – aber selbst wenn uns Hilfe zukommt, ist dies nur ein Aspekt des germanischen Kultes. Was ist mit den Jahresfesten? Mit all den zyklisch wiederkehrenden Ritualen, welche zentral für den germanischen Kult sind?

Hier kommen wir an den Scheideweg: Ich vertrete auf Eichenstamm die Ansicht, dass unsere Götter Naturgötter sind, das heißt, dass ihre Heimat und ihr Machtbereich in der Natur liegt. In einer Stadt sehe ich kein Umfeld, wo meine Götter stark sind, ach was, wo ich sie überhaupt nur finden kann (gemeint ist damit nicht eine kurze spirituelle Präsenz, sondern das Aufbauen eines »göttlichen Kraftfeldes«, das Bestand hat – so wie es etwa in einem Eichenhain möglich ist).
Natürlich gibt es Ásatrúar, die diesbezüglich eine andere Meinung vertreten, und die sei ihnen hier auch nicht abgesprochen. Ich kann mich allerdings in diese nicht hineinfinden und werde sie aus diesem Grund an der Stelle auch nicht weiter vertiefen.

Nun ergibt sich allerdings ein Problem: Der moderne Mensch ist in den meisten Fällen unabhängig von der Natur – oder fühlt sich zumindest so. Sonntägliche Waldspaziergänge oder Kurzurlaube in naturreiche Gegenden können nicht einen so hohen Stellenwert im Leben des homo urbanus bekommen, dass er eine Abhängigkeit, eine Notwendigkeit verspürt, natürliche Götter in sein alltägliches Leben miteinzubeziehen.
Es zeigt sich also: Das Umfeld der alten Götter und das Umfeld des modernen Menschen haben eine zu geringe Überschneidung, um tatsächlich miteinander in Kontakt treten zu können – zumindest auf so intensive und stabile Weise, wie man es sich für eine Religion wünschen würde. Der moderne Mensch hat andere Bedürfnisse als diejenigen, die die alten Götter stillen können, und die Götter haben andere Ansprüche, als wir sie befriedigen können.

Ist die Alte Sitte aus diesem Grund für einen modernen Menschen nicht wiederzuerwecken?

Aus meiner persönlichen Sicht und dem Standpunkt von Eichenstamm heraus: Nein, es ist nicht möglich. Durch Modernisierung kann die Alte Sitte nicht in das Leben des modernen Menschen gebracht werden, weil erkannt werden muss, dass es keine ausreichenden Berührungspunkte zwischen Menschen und Göttern mehr gibt.
Ausgenommen ist in diesem Moment die Möglichkeit für diejenigen Menschen, die glauben, die Götter auch in der Stadt finden zu können. Wer sich dazu entschließt, muss seinen Weg allerdings selbst definieren und herausarbeiten. Ich hege die Ansicht, dass diese Götter mit meinen Göttern kaum übereinstimmen.

Aus diesem Grund schreite ich weiter zur zweiten Möglichkeit.

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