Die beiden Merseburger Zaubersprüche sind zwei Strophen, die einerseits die Befreiung eines Gefangenen, andererseits die Heilung eines verrenkten Pferdefußes bewirken sollen. Dafür richteten sie sich an germanische Götter und Geister. Besonders bedeutend sind sie außerdem, weil sie die einzigen vorchristlichen Schriften in althochdeutscher Sprache sind.
Sie wurden im 19. Jahrhundert in der Domkapitelbibliothek von Merseburg in einer Handschrift aus dem 10. Jahrhundert entdeckt. Ein Jahr später, 1842, wurden sie erstmals von Jacob Grimm herausgegeben und kommentiert.
Die Sprüche finden sich als Nachtrag in einer Sammelhandschrift mit vornehmlich christlichem Inhalt (etwa Taufgelöbnissen oder Gebeten). Die Signatur lautet Merseburg, Domstiftsbibliothek, Codex I, 136; die Sprüche werden meist auf fol. 85r angegeben, aufgrund einer nicht ganz leichten Seitennummerierung schlug aber schon Jacob Grimm fol. 84r vor.
Man geht davon aus, dass die Zaubersprüche ursprünglich in Fulda aufgeschrieben wurden, zumindest kann nachgewiesen werden, dass sich die Handschrift bis zum Jahr 990 im Kloster von Fulda befand. Der genaue Dialekt der beiden Sprüche lässt sich nicht abschließend feststellen.
Beide Zaubersprüche bestehen aus einer einleitenden Geschichte (historiola) und dem anschließenden Zauberspruch (incantatio). Sie verwenden die germanische Langzeile mit Stabreim, der jedoch nicht konsequent durchgeführt wird; tatsächlich ist ein Hang zum Endreim ersichtlich. Daher geht man im Allgemeinen davon aus, dass die Sprüche in einer Zeit entstanden, in welcher der Endreim allmählich den Stabreim ablöste.
Insgesamt gehen die Meinungen der Forscher zur Entstehungszeit weit auseinander. Felix Genzmer etwa datiert den ersten Spruch ins 2., den zweiten ins 5. Jahrhundert, während man heute eher eine Zeit zwischen 750 und frühes 10. Jahrhundert annimmt (also kurz vor der Verschriftlichung).
Der erste Merseburger Zauberspruch
Transliteration
Eiris sazun idisi sazunheraduoder suma
hapt heptidun sumaherilezidun sumaclu
bodun umbicuonio uuidi insprinc hapt
bandun inuar uigandun· H·
Normalisierte Form [1]
Eiris sâzun idisi, sâzun hêra duoder.
suma haft heftidun, suma heri lêzidun,
suma clûbodun umbi cuniowidi:
insprinc haftbandun, infar wîgandun.
Übersetzung [2]
Einst saßen Idise, setzten sich hierher und dorthin.
Einige hefteten Fesseln, einige reizten die Heere auf.
Einige klaubten herum an den Volkesfesseln
Entspringe den Haftbanden, entkomme den Feinden.
Übersetzung nach Simek [3]
Einst saßen die Idisi, saßen hier und dort,
Einige banden Fesseln, einige hemmten das Heer,
einige lösten Fesseln:
Entspringe den Fesseln, entfliehe den Kriegern.
Beim ersten Merseburger Zauberspruch handelt es sich um einen Befreiungszauber, der Gefangene von ihren Fesseln lösen soll. In der historiola (Zeile 1-3) geht es um sogenannte Idisen, die namentlich sonst nirgendwo bezeugt sind. Offensichtlich handelt es sich um weibliche Wesen, deren Wirkungsumfeld auf Walküren hinweist. Bemerkenswert ist etwa der in Skandinavien belegte Walkürenname Herfjötur, Heerfessel. Eine Verbindung zu den mythologischen Gestalten der Disen ist in der Forschung umstritten.
Die Begriffe idis (altsächsisch), itis (althochdeutsch) und ides (angelsächsisch) deuten jeweils auf eine verehrte Frau hin und bedeutet somit dasselbe wie der lateinische Begriff matrona. Simek hält es für denkbar, dass das Wort Idisen mit dem Matronenkult am Niederrheim im 1. und 5. Jahrhundert nach Christus in Verbindung steht [3].
In der incantatio des Zauberspruchs wird dazu aufgerufen, sich aus den Fesseln zu befreien.
Der zweite Merseburger Zauberspruch
Transliteration
Phol endeuuodan uuorun ziholza du uuart
demobalderes uolon sinuuoz birenkict
thubiguolen sinhtgunt · sunnaerasuister
thubiguolen friia uolla erasuister thu
biguolen uuodan sohe uuolaconda
sosebenrenki sose bluotrenki soselidi
renki ben zibenabluot zibluoda
lid zigeliden sosegelimida sin.
Normalisierte Form [1]
Phôl ende Wuodan fuorun zi holza.
dû wart demo balderes folon sîn fuoz birenkit.
thû biguol en Sinthgunt, Sunna era swister;
thû biguol en Frîja, Folla era swister;
thû biguol en Wuodan, sô hê wola conda:
sôse bênrenki, sôse bluotrenki,
sôse lidirenki:
bên zi bêna, bluot zi bluoda,
lid zi geliden, sôse gelîmida sîn.
Übersetzung [2]
Phol und Wodan begaben sich in den Wald
Da wurde dem Fohlen des „Balders“ sein Fuß verrenkt
Da besprach ihn Sinthgunt, die Schwester der Sunna
Da besprach ihn Frija, die Schwester der Volla.
Da besprach ihn Wodan, wie er es wohl konnte.
So Beinrenkung, so Blutrenkung,
so Gliedrenkung:
Bein zu Bein, Blut zu Blut,
Glied zu Glied, wie wenn sie geleimt wären
Übersetzung nach Simek [3]
Phol und Wodan ritten in den Wald,
da wurde der Fuß von Balders Fohlen verrenkt;
da besang es Sintgunt und Sunna, ihre Schwester,
da besang es Friia und Volla, ihre Schwester,
da besang es Wodan, der dies gut konnte:
Sei es Beinrenkung, sei es Blutrenkung,
sei es Gliedrenkung:
Bein zu Bein, Blut zu Blut,
Glied zu Gliedern, als wenn sie geleimt wären!
(oder : dass sie gelenkig sind!)
In der historiola (Zeile 1-6) geht es um Phol und Wotan, die durch den Wald reiten, ehe sich das eine Pferd den Fuß verrenkt. Vier Göttinnen versuchen den Huf durch Gesänge zu heilen, aber erst Wotan gelingt es. Die incantatio (7-8) folgt seinen Worten.
Schwierigkeiten bereiten der Forschung die verschiedenen Götternamen: Einzig Wodan und Frija können mit Sicherheit zugeordnet werden, bei allen anderen ist die Deutung umstritten. Etwa ist unsicher, ob der Name Balder hier als früher Beleg für den Gott Baldur (ansonsten im süddeutschen Raum nie erwähnt) fungieren kann, oder ob er in der Bedeutung "Herr" für Wotan steht. Phol und Volla (Fol und Fulla) deutete Erik Brate als ein Geschwisterpaar, das Freyr und Freyja entsprechen könnte.
Die Handlung dieses Zauberspruchs ist auch auf manchen Brakteaten des 5. und 6. Jahrhunderts dargestellt (Gruppe C), etwa auf dem Brakteat IK 98 aus dem Raum Køge (Seeland).
Quellen
[1] Nach Eduard Sievers (zitiert nach: Wikipedia)
[2] Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Merseburger_Zaubersprüche
[3] Simek Rudolf, Lexikon der germanischen Mythologie, 1984
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Klaus (Samstag, 28 Dezember 2019 21:24)
Kennst du die Oera Linda Schriften? Die sind aus Ostfriesland un ca. 5000 Jahre alt ,immer wieder kopiert und in einem interessanten Buch zu kaufen.
Eichenstamm (Montag, 30 Dezember 2019 17:46)
Grüß dich Klaus,
nein, die Oera Linda Schriften sind mir kein Begriff. 5000 Jahre oder 500?
Wie heißt denn dieses Buch?
Viele Grüße