Die Herkunft der Runen ist nach wie vor nicht vollkommen geklärt und wird in der Forschung seit mindestens einem Jahrhundert und noch immer heiß diskutiert. Mittlerweile haben sich drei Theorien herausgebildet, die jedoch allesamt nicht über den Status einer These hinauswachsen konnten: Für jede der Theorien gibt Hinweise, die dafür sprechen, aber auch Lücken, die im schlimmsten Fall das gesamte Konstrukt in sich zusammenfallen lassen.
Warum eine Vorlage?
In Forscherkreisen ist unumstritten, dass die Runenschrift weder von den Germanen erfunden wurde (dafür sind die Ähnlichkeiten zwischen Runen und anderen Schriften zu deutlich) noch dass es einen
gemeinsamen indogermanischen Ursprung gibt, nach dem sich die Schrift vielleicht ähnlich wie indogermanische Sprachen oder indogermanischer Glaube von einer gemeinsamen Wurzel hinaus
weiterentwickelt hätte. Dagegen spricht nicht nur die Fundleere, die sich sicherlich irgendwie erklären ließe.
Der wichtigste Gegenbeweis ist die sprachliche Entwicklung. Bei der Veränderung der indogermanischen Sprache hin zum Protogermanischen fand eine Lautverschiebung statt, das sogenannte Erste
Grimmsche Gesetz oder auch die Erste Konsonantische Lautverschiebung. Dabei veränderten sich die stimmlosen Okklusiven zu stimmlosen Frikativen, die stimmhaften Okklusiven hin zu stimmlosen
Okklusiven und die stimmhaften, aspirierten Okklusiven hin zu stimmhaften Frikativen. Die Zeit der Entwicklung fällt dabei ins 5. bis 3. Jahrhundert vor Christus.
INDOGERMANISCH
|
GERMANISCH
|
|||
Stimmlose Okklusive
|
p, t, k, kw
|
wird zu
|
Stimmlose Frikative
|
f, t/þ, h/χ, hw/xw
|
Stimmhafte Okklusive
|
b, d, g, gw
|
wird zu
|
Stimmlose Okklusive
|
p, t, k, kw
|
Stimmhafte, aspirierte Okklusive
|
bh, dh, gh, gw
|
wird zu
|
Stimmhafte Frikative
|
b, d , g, gw (am Wortanfang und nach Nasal), ansonsten ƀ, ð, ǥ, ǥw |
Durch diese Lautverschiebung hoben sich künftig alle germanischen Sprachen wie etwa Deutsch, Englisch und die skandinavischen Sprachen Norwegisch, Schwedisch, Dänisch, Isländisch von den restlichen indogermanischen Sprachen deutlich ab, wie etwa von den romanischen Sprachen (Italienisch, Französisch, Spanisch). Daraus folgen Wortverwandschaften in den germanischen Sprachen, die heute noch erkennbar sind:
idg. peku
|
p wird zu f
|
germ. fehu got. faihu aisl. fé ags. feoh ahd. fihu
|
dt. Vieh schw. fä
|
lat. pecus ital. pecora (eig. Schaf)
|
idg. kerd-/kord
|
k wird zu h
|
germ. hert- got. hairto aisl. hiarta ags. heorte ahd. herza
|
dt. Herz engl. heart schw. hjärta
|
lat. cor ital. cuore
franz. cœur
|
idg. ped-/pod-
|
p wird zu f
|
germ. fot- aisl. fotr ags. fot ahd. fuoz |
dt. Fuß engl. foot schw. fot
|
lat. pes ital. piede franz. pied
|
All das heißt nichts anderes, als dass die Runenschrift, würde sie auf einer indogermanischen Grundlage beruhen, sich in den oben genannten Buchstaben von den anderen Alphabeten jener Sprachen
unterscheiden müsste, die ebenfalls aus dem Indogermanischen stammen: Fehu dürfte nicht aussehen wie F sondern wie P, Tiwaz dürfte nicht aussehen wie T, sondern wie D, Hagalaz dürfte nicht
aussehen wie H, sondern wie K.
Da dies nicht der Fall ist, kann man schließen, dass die Runenschrift erst nach der ersten konsonantischen Lautverschiebung entstand, also erst nach dem 5. bis 3. Jahrhundert vor Christus.
Die zweite Möglichkeit, dass nämlich die anderen Schriften sich aus der Runenschrift entwickelt hätten und nicht umgekehrt, kann mit großer Sicherheit ausgeschlossen werden: Für lateinische,
griechische und norditalische (etruskische) Schrift gibt es Funde weit vor der Zeit der ersten Runeninschriften. Sie daher als Nachfolger der Runen anzunehmen, ist wissenschaftlich unhaltbar,
zumal die lateinische und etruskische Schrift auf die griechische und diese wiederum auf die phönizische zurückgeführt werden kann. Dort verliert sich der Einfluss eventueller »urzeitlicher«
Runen ohnehin.
Voraussetzungen
Mittlerweile ist sich die Forschung in drei Punkten einig (Düwel):
- Die Runen wurden nicht von den Germanen erfunden.
- Die Vorlage muss ein mediterranes Alphabet gewesen sein.
- »Ausgangspunkt aller Überlegungen haben Raum und Zeit der ältesten Runenüberlieferung zu sein.«
Der letzte Punkt bedeutet schlicht, dass man eine Vorlage untersuchen muss, die natürlich nicht nach den ersten Runeninschriften aufkam und die mit den Germanen nicht bereits viele Jahrhunderte
vor den ersten Runenfunden in Kontakt gekommen sein kann. In diesem Fall müsste nämlich erklärt werden, wie es zu einer so langen Zeit der Fundleere kommen konnte. Außerdem müssen
Vorlagenalphabet und erste Runenfunde geographisch in Zusammenhang stehen: Irgendwie muss ein Kontakt zwischen Germanen und dem Volk des Vorlagenalphabets möglich und glaubhaft gewesen sein.
Bei der Suche nach einem Vorlagenalphabet müssen drei Aspekte untersucht werden (nach Düwel):
- der kulturgeschichtliche (kultureller Status),
- der formale (Übereinstimmungen im Zeicheninventar),
- der linguistische (Phonementsprechungen).
Außerdem führt Düwel noch die »alphabetgeschichtliche Betrachtungsweise« hinzu, worunter Schriftrichtung, Schreibung von Doppellauten, Ligaturen und Worttrennungen fallen.
Insgesamt nennt er fünf Fragen, die für die Suche nach dem Ursprung der Runen untersucht werden müssen:
- Von welchem Vorlagenalphabet aus (woher)?
- Zu welcher Zeit (wann)?
- In welchem Gebiet (wo)?
- Von welchen Personen/welcher Person bzw. Ethnie (Gruppe, »Stamm«) (wer)?
- Zu welchem Zweck (wozu?) wurde die Runenschrift geschaffen?
Woher?
Wie schon oben erwähnt, haben sich mittlerweile drei Theorien dazu herauskristallisiert: Die Latein-These, die Griechen-These und die norditalische These.
Die Latein-These geht auf Ludvig Wimmer Ende des 19. Jahrhunderts zurück und erfährt seither am meisten Zuspruch. Ihr zufolge wurden die Runen aus der lateinischen Capitalis-Schrift entwickelt,
der Ort der Entstehung variiert von Forscher zu Forscher. Wimmer legte ihn beispielsweise nach Dänemark, Askeberg vermutet die Goten im Weichselgebiet als Urheber. Agrell bringt die lateinische
Kursive als eigentliche Grundlage hervor, was Helmut Arntz aufgrund des monumentalen Charakters der Runen (sie werden selbst in Manuskripten stets unverbunden geschrieben) kategorisch
ausschließt.
Insgesamt ist die Latein-These vor allem deswegen so attraktiv, weil sich römischer Einfluss im Norden sehr leicht nachweisen lässt und de facto auch bestanden hat, sei es bei Grabbeigaben,
Weihesteinen oder durch Söldnerdienste von Germanen im römischen Heer. Kritisiert werden dagegen vor allem die unterschiedlichen Schreibgewohnheiten (die lateinische Schrift wurde nur von links
nach rechts geschrieben, während bei den Runen wie bei anderen südeuropäischen Schriften auch das Schreiben von rechts nach links möglich war) sowie die mangelnde Übereinstimmung einiger
Buchstaben und Laute. »Diese Abweichungen würde man nur hinnehmen, wenn diese Formen auch aus anderen Schriften nicht zu erklären wären.« (Arntz, S. 35)
Die Griechen-These wurde erstmals von Sophus Bugge 1899 formuliert und später von Otto von Friesen weitergeführt. Zeitweise war sie sehr beliebt, gilt heute jedoch als unwahrscheinlich: Auch hier
werden die Goten im Weichselgebiet als Urheber vermutet, allerdings fand ein Kontakt zwischen ihnen und den Griechen erst in einer Zeit statt, in der wir bereits älteste Runeninschriften (aus dem
2. Jahrhundert n. Chr.) besitzen.
Die norditalische These wurde von Carl Mastrander begründet und erfährt heute verhältnismäßig wenig Zuspruch. Ihr zufolge wurde die Runenschrift aus einem oder mehreren der zahlreichen
norditalischen Alphabeten entwickelt, welche wiederum aus dem griechischen Alphabet entstanden sind. Helmut Arntz weist auf eine große Übereinstimmung dieser Alphabete und der Runen hin, sei es
im Zeicheninventar, sei es in linguistischer Hinsicht. Auf Eichenstamm wird seine These vertreten, für eine detailierte Analyse siehe »Die norditalische Theorie« (Artikel folgt in Kürze).
Die Kritik, die Arnulf Krause anführt, wirkt dagegen nicht sonderlich fundiert: »Hat sich irgendein Germane aus den zahlreichen Alphabeten eine bunte Mischung an Buchstaben ausgewählt oder gab es
eine einzelne unmittelbare Vorlage? […] Doch wonach fand die Auswahl dann statt — nach den Formen der Zeichen oder nach den Lauten, für die sie standen?«
Solcherlei Fragen sind natürlich schwierig zu beantworten (was ebenso für die anderen beiden Thesen gilt), da sie Quellen verlangen, die nach gut 2000 Jahren schwer aufzutreiben sein dürften.
Ganz gewiss widerlegen sie die Theorie nicht.
Wann?
Die Festlegung des Zeitfensters, als die Runen erfunden wurden, muss natürlich anhand der ältesten Runeninschriften erfolgen. Dies ist in der Praxis nicht ganz so leicht festzustellen: Gerade bei
den ältesten Inschriften, etwa der Fibel von Meldorf, ist nicht sicher, ob es sich um richtige Runen oder nicht vielmehr Vorgängerrunen handelt. Die Fibel fällt ins 1. Jahrhundert n. Chr., die
gesicherte Verwendung von Runen ist ab dem 2. Jahrhundert mit etwa 20 Denkmälern bewiesen. Will man die von Tacitus in der Germania 98 n. Chr. erwähnten notae als Runen interpretieren, so muss
die Entstehung ebenfalls in das 1. Jahrhundert n. Chr. oder früher fallen.
In seiner Theorie der etruskischen Vorlage, verweist Arntz auf das 2. Jahrhundert v. Chr., allerdings ist die Aufnahme eines fremden Alphabets zeitlich natürlich keinesfalls gleichzusetzen mit
einer weitläufiger festzustellenden Schreibpraxis:
»Die zeitliche Distanz von der ersten Überlieferung bis zum ‚Schöpfungsakt’ der Runenschrift lässt sich unterschiedlich sehen. In alphabegeschichtlichem
Vergleich gelten 100-200 Jahre als ‚dunkle Zeit’, mindestens jedoch 50 Jahre.«
[…] Je nach Vorentscheidung in diesen Fragen kommt man für die Entstehung der Runenschrift in das 1. Jh. n. Chr. und bis in das 2. Jh. v. Chr. zurück. Im Falle
der norditalischen These muss zusätzlich beachtet werden, dass die dabei herangezogenen Vorlagenalphabete spätestens seit der Mitte des 1. Jhs. v. Chr. wegen des sich ausbreitenden lat. Alphabets
schnell außer Gebrauch kamen.«
Düwel, S. 178
Wo?
Der Ort der Entstehung der Runenschrift hängt natürlich stark davon ab, für welche der drei Thesen man sich entscheidet. Im Falle der Latein-These kommen beispielsweise entweder Dänemark oder das
Niederrheingebiet infrage. Für Dänemark (wo wir eine verhältnismäßig große Anzahl ältester Funde haben) gibt es etwa Hinweise für römische Einflüsse im Handel. Es ist jedoch unklar, ob die
Runenfunde aus Dänemark (Moore von Vimose und Illerup) tatsächlich in der Nähe beritzt wurden oder nicht vielmehr aus weiter Ferne kamen. Da es sich um Reste von Kriegsbeute handelt, ist dies
wahrscheinlich.
Für das Gebiet um den Niederrhein sprechen direkte und sprachliche Kontakte.
Vertritt man die norditalische/etruskische These so kommen als Erfinder der Runen eher die Alpengermanen infrage. Genannt wurden beispielsweise die Kimbern, von anderer Seite allerdings als
unwahrscheinlich abgetan, da sie im Moment des Kontaktes zu den etruskischen Schriften gerade eine heftige Niederlage erlitten und die Erfindung einer Schrift daher vermutlich ihre kleinste Sorge
war.
Wer?
Die Frage nach dem Erfinder oder den Erfindern der Runen lässt sich nicht abschließend klären und scheitert schon an der Frage, ob es sich um eine Einzelperson oder eine Gruppe gehandelt haben
mag (»Zauberpriester«? Römische Geiseln?). Ethnien wurden bereits zahlreiche genannt, unter ihnen befinden sich auch die Goten, Skiren, Markomannen oder Angeln. Höfler formuliert eine Theorie,
nach der es sich bei den Erulern nicht um einen Stamm im eigentlichen Sinne, sondern um einen kriegerischen Kultverband handele, der bei seinen weiten Zügen durch ganz Europa kam und dabei die
Runen nach einer Vorlagenschrift entwickelte. Als Hinweis für seine Theorie nennt der den Helm A von Negau mit der Inschrift C(enturia) Erul(i) (nach Düwel).
Interessant ist in der Hinsicht die auf acht Runendenkmälern erhaltene Form »ek erilaʀ«, der Großteil davon aus dem 6. Jahrhundert, wobei erilaʀ einen Runenschreiber zu beschreiben
scheint.
»Ob erilaʀ mit dem Volksnamen der (H)eruler (urgerm. *erulaz) zu verknüpfen sei, ist umstritten. In erilaʀ liegt kein Stammesname, sondern eine
Standesbezeichnung oder ein Titel vor. Es bezeichnet einen vornehmen Mann, der die Runenkunst beherrscht (Runenmeister) und der priesterliche Funktionen ausüben mag.«
Düwel, S. 12
Wozu?
Auch der Grund für die Schaffung der Runen lässt sich nicht klären. Klaus Düwel stimmt mit Helmut Arntz darin überein, dass es aus einem Bedürfnis heraus geschehen sein muss. Ob dieses Bedürfnis kultisch (Kultschrift) oder weltlich (Bewahrung von Erinnerungen) war, ist nicht mit Sicherheit feststellbar.
Quellen
Arntz: Arntz, Helmut, Handbuch der Runenkunde, Edition Lempertz, Königswinter 2007 (1944).
Düwel: Düwel, Klaus, Runenkunde, Verlag J.B. Metzler, Stuttgart Weimar 2008.
Krause: Krause, Arnulf, Runen, Marixverlag, Wiesbaden 2017.
Kommentar schreiben