Philologie

Die Hauptlehre der Philologie ist, dass jeder Text eine Interpretation ist.
In dem Moment, in dem ein Text von einem Mönch kopiert wurde, handelt es sich um eine Interpretation. In dem Moment, wo ein Philologe den Text transkribiert, handelt es sich um eine Interpretation. In dem Moment, wo der Text übersetzt wird, handelt es sich um eine Interpretation.

Es gibt nicht den Text. Sämtliche mittelalterlichen Texte, die wir in unserem Bücherregal in normalisierter und meist übersetzter Form stehen haben, sind Interpretationen und keinesfalls das „lesbar gemachte Original“.
Es handelt sich niemals um die Snorra Edda, um die Lieder-Edda oder um die Njáls saga. Es handelt sich immer um Interpretationen und damit Texte, die subjektiv verstanden und verändert wurden. Kein Übersetzer, kein Philologe ist imstande, objektive Arbeit zu leisten und somit das Original 1:1 zu übertragen.
Philologische Arbeit zu leisten heißt Entscheidungen zu treffen. Entscheidungen zu treffen heißt, subjektiv Dinge zu bewerten, es heißt, die Wahl zwischen dem einen und dem anderen zu haben und das eine wählen.

Das Wissen darum ist das allerwichtigste bei der Beschäftigung mit mittelalterlichen Texten und ihren Übersetzungen.

Was ist Philologie?

Philologie bezeichnet die Wissenschaft, die sich mit alten Sprachen und Texten in ihrem Kontext beschäftigt. Die Aufgabe eines Philologen ist es, mittelalterliche Handschriften zu editieren, das heißt, zu entziffern, dem heutigen Schriftstandard anzupassen und für ein Publikum lesbar zu machen. In vielen Fällen gehört dazu auch die Übersetzung (beispielsweise vom Altnordischen oder Althochdeutschen ins moderne Hochdeutsch). Die Philologie, die sich mit der Edition von Texten beschäftigt, nennt sich Ekdotik.
Ein weiterer Teilbereich der Philologie ist die Arbeit mit alten Sprachen im Allgemeinen. Anders als bei der Linguistik ist die Sprache hier jedoch nicht interessierendes Objekt der wissenschaftlichen Untersuchung, sondern Werkzeug.
Ein Philologe muss für seine Arbeit beste Kenntnis über jene Sprache haben, die er erforscht. Es ist undenkbar, dass er eine Edition zu einem Manuskript erstellt, dessen Sprache und Schrift er nicht bestens beherrscht, da ihm unter diesen Umständen zwangsläufig Fehler unterlaufen werden.

Das Problem der Sprache

Im Mittelalter gab es noch keine Schrift- und Sprachstandards, der Mönch schrieb, „wie ihm das Maul gewachsen war“. Das betrifft nicht nur kreative Auswüchse der Orthographie, wie man sie heute vielleicht noch in Grundschulen antrifft, sondern vor allem dialektale Varianten, die sich von Region zu Region unterscheiden. Derlei Varianten helfen zwar auf der einen Seite, das Manuskript zeitlich und lokal einzuordnen, andererseits können sie aber allzu schnell zu falschen Schlussfolgerungen führen. So kann es etwa passieren, dass ein Wort fehlerhaft interpretiert wird, weil der Philologe sich nicht ausreichend mit dem örtlichen Dialekt befasst hat.
Eine weitere Schwierigkeit ergibt sich, wenn ein Manuskript der Gegend A von einem Mönch der Gegend B kopiert wird und dieser die Sprache in seiner Kopie an seine eigene anpasst. Dies kann absichtlich oder unabsichtlich geschehen, vereinzelt oder durchwegs. Im Ergebnis kann es so zu einem sprachlichen Mischmasch kommen, der nur noch schwer zu lokalisieren ist (so etwa beim Abecedarium Nordmannicum).

Manuskripte

Ein Manuskript oder auch Codex bezeichnet eine mittelalterliche Handschrift, die in Buchform gebunden wurde. Die Seiten einer solchen Handschrift bestanden bis zur Einführung des Papiers aus den arabischen Ländern aus Pergament, also gegerbter Tierhaut (vorzugsweise Kälber, junge Schafe und Ziegen).
Manuskripte wurden bis zur Erfindung des Buchdrucks ausschließlich mit Hand geschrieben und kopiert. Da die Schriftlichkeit vor allem in den Klöstern gefördert wurde, waren die meisten Kopisten Mönche, die eine streng christliche Ausbildung genossen haben. Das zeigt bereits, dass die schriftlich überlieferten Quellen des Mittelalters alle aus demselben Gedankenmonopol des Klerus stammen.
Pergamenthandschriften sind in ihrer Machart denkbar unterschiedlich: Sie können vom kleinen, schäbigen Handbuch bis zur Prachthandschrift variieren. Ganz unabhängig von materiellem Wert, unterscheidet die Philologie inhaltlich nicht in schöne und hässliche, gute und schlechte Manuskripte. Jedes Manuskript hat seinen Wert und hatte seine Funktion und muss in seinem Kontext betrachtet und anerkannt werden.
Die Forschung, die sich mit dem Material der Manuskripte beschäftigt, nennt sich Kodikologie.

Begriffe

Original
Als Original bezeichnet man das Manuskript, welches den jeweiligen Text als erstes verfasst hat. Dieses ist uns nur in sehr wenigen Fällen bekannt; meist ist das Original im Laufe der Zeit verloren gegangen und wir haben nur noch seine Abschriften.

Archetyp
Der Archetyp ist das Manuskript von dem die gesamte Überlieferung eines bestimmten Textes ausgeht. Er ist die (direkte oder indirekte) Kopie des Originals, in manchen Fällen auch das Original selbst.

Antigraph und Apograph
Der Antigraph ist das Manuskript, das als Vorlage einer Kopie diente. Der Apograph ist die Kopie dieser Vorlage. Ein Manuskript, das sowohl eine Kopie ist als auch kopiert wurde, ist also beides: Antigraph und Apograph.

Autograph und Idiograph
Ein Autograph ist ein Original, das vom Autor selbst geschrieben wurde. Ein Idiograph ist ein Original, das lediglich unter den Augen des Autors an seiner statt geschrieben wurde (etwa weil der Autor es diktierte).

Überlieferung
Als Überlieferung bezeichnet man die gesamte Menge der Manuskripte, die von einem gewissen Text vorhanden ist.

Codex unicus
Ein Codex unicus ist ein Text, dessen Überlieferung aus lediglich einem einzigen Manuskript besteht. Wir haben nicht mehr die Möglichkeit, diesen Text mithilfe anderer Handschriften zu prüfen. Ein berühmtes Beispiel für einen Codex unicus ist etwa der Beowulf.

Palimpsest
Ein Palimpsest ist ein Manuskript, in dem zwei Texte übereinander stehen. Da Pergament teures Material war, passierte es mitunter, dass ein nicht mehr zu gebrauchender Text auf den Seiten weggekratzt und ein neuer darüber geschrieben wurde. Spuren des alten Textes sind dennoch zu erkennen und können mithilfe von spezieller Lichtstrahlung oder Tinkturen wieder sichtbar gemacht werden.

Codex Miscellaneus
Ein Codex Miscellaneus ist die am häufigsten vorkommende Art von Codices. Diese Codices bestehen nicht aus einem einzigen Text, sondern aus einer Sammlung verschiedener Texte, die (meist) unter einem gemeinsamen thematischen Schwerpunkt erfasst wurden. 

Das Konzept des Fehlers

So traurig es klingt, die gesamte philologische Arbeit an Manuskripten beruht auf der Forschung an Fehlern. Nur über Fehler lassen sich die Beziehungen zwischen Texten herstellen und ein Stemma codicum, ein Stammbaum der Codices, erstellen.

 

Beim Kopieren eines Textes entstehen Fehler. Immer. Aufgabe des Philologen ist es, diese Fehler zu finden, sie in sämtlichen Manuskripten zu vergleichen und so herauszufinden, welches Manuskript von welchem abgeschrieben wurde.
Ein Schlüsselwort dafür ist der Leitfehler. Dieser Fehler wurde in einem Manuskript zu Pergament gebracht und in den darauffolgenden Kopien weitergetragen: Er zieht sich durch die gesamten Abschriften dieses Manuskriptes und erlaubt es daher, diese von anderen Abschriften des Archetypen ohne diesen Fehler zu unterscheiden.
Im Beispiel hat Manuskript B einen Fehler eingeführt, der im Folgenden von D, E und F wiederholt wird, während C, G und H diesen Fehler nicht verbreiten und daher offensichtlich von einem anderen Zweig der Abschriften stammen.

Defraktion (in absentia, in presentia)

Als Defraktion bezeichnet man den Moment, in welchem ein Manuskript unterschiedliche Varianten bzw. Fehler in seinen Kopien hervorruft. In der obigen Grafik wäre es als Manuskript A, welches eine Defraktion auslöst, weil B und C dadurch verschiedene Abschnitte überliefern.
Es gibt Defraktionen in absentia (das Manuskript, das die Defraktion verursacht, ist nicht mehr erhalten) und in presentia (das Manuskript, das die Defraktion verursacht, ist noch erhalten). In ersterem Fall kann es schwierig sein, die richtige Lesart zu rekonstruieren, vor allem da es Beispiele für Überlieferungen gibt, bei denen offensichtlich sämtliche Varianten falsch sind und wohl nicht im Original anzutreffen gewesen sein können (Chanson de Saint Alexis beispielsweise).

Absicht hinter den Fehlern

Fehler – beziehungsweise besser: Varianten – in einem Text können willkürlicher oder unwillkürlicher Natur sein. Ein Kopist kann also absichtlich Änderungen vornehmen oder sich unabsichtlich verschreiben, in der Zeile verrutschen oder undeutlich geschriebene Absätze fehlinterpretieren.
Zu den absichtlichen Änderungen gehören sprachliche oder inhaltliche Anpassungen. Sprachliche sind etwa oben genannte dialektale Abwandlungen, um den Text an lokale Gegebenheiten anzupassen. Zu den inhaltlichen Modifikationen gehören Einfügungen (beispielsweise werden Textabschnitte aus anderen Manuskripten übernommen und in das vorliegende eingearbeitet) oder Zensuren, wenn Textabschnitte nicht mehr zum Zielpublikum passen oder schlicht nicht gefallen. Manche Änderungen sind beider Natur: In einer der Abschriften der Angelsächsischen Chronik wird in einem Manuskript beispielsweise der Wortschatz gezielt religiös verändert und dem Text so ein christlicher Grundton verliehen.

Stemma Codicum

Beim Stemma Codicum handelt es sich um einen Stammbaum einer Manuskripttradition. Sämtliche überlieferte Manuskripte werden gesammelt und miteinander in Beziehung gesetzt: Welches Manuskript stammt von welchem ab? Wo fehlen Manuskripte, die uns verloren gegangen sind (etwa Antigraphen eines vorhandenen Manuskriptes)? Welche Leitfehler können wir finden und damit bestimmte Manuskriptfamilien (Zweige im Stemma, die auf einer gemeinsamen Überlieferung beruhen) ausmachen?
Bei der Erstellung des Stemmas (insbesondere bei theoretischen, also nicht realen Stemmata) werden Großbuchstaben für die vorhandenen Manuskripte verwendet, griechische Kleinbuchstaben für jene, die wir nicht mehr haben. Bei tatsächlichen Stemmata verwendet man Kürzel, die sich von der Bibliothek ableiten, in welcher das Manuskript liegt. So lauten die Kürzel für die Manuskripte der Snorra Edda R (Codex Regius), W (Codex Wormianus), U (Codex Uppsaliensis), T (Codex Traiectinus).

 

Auf der Suche nach dem Original hilft das Stemma bei der Beurteilung der verschiedenen Manuskripte. Nehmen wir die daneben gezeichnete Grafik als Beispiel: Die beige eingefärbten Manuskripte sind jene, die nicht überliefert wurden und im Laufe der Zeit verloren gingen. Versuche ich als Philologe, das Original bzw. den Archetypus wiederherzustellen, brauche ich jene Manuskripte, die ihm am nächsten sind. Von den fünf überlieferten Manuskripten gilt das für A, B und D. Auch C ist interessant, da wir γ nicht haben, aber mithilfe von C und D γ erfahrbar sein könnte.
Das einzige Manuskript, das uns nicht weiterhilft, und das daher bei der weiteren Forschung vernachlässigt werden kann, ist E, da E eine Abschrift von D ist, die wir haben. Obwohl wir, wie oben gesagt, die Manuskripte nicht nach gut und schlecht beurteilen, gibt es bei der Arbeit mit dem Stemma und auf der Suche nach dem Original sehr wohl „wertlose“ Manuskripte.

Editionstypen

Es gibt verschiedene Methoden einen Text zu editieren beziehungsweise ihn einer Leserschaft zugänglich zu machen. Die Methoden variieren darin, wie sehr sie in den Ursprungstext eingreifen.

Faksimile
Ein Faksimile ist die perfekte Kopie des abgebildeten Textes, sozusagen ein hoch aufgelöstes Foto der Manuskriptseite. Heutzutage gibt es nur noch weniger Bücher, die solche Faksimile-Ausgaben herausbringen, da ein Großteil der Bibliotheken ihre Manuskripte auf diese Weise haben einscannen lassen und nun online zugänglich sind.
Ein Faksimile ist natürlich die authentischste Wiedergabe eines mittelalterlichen Textes, für den Laien allerdings nur schwer zu gebrauchen. Neben sprachlichen und dialektalen Schwierigkeiten wird man auch mit den mittelalterlichen Schreibgewohnheiten konfrontiert: Abkürzungen, Ligaturen und verdichteter Blocksatz sind denkbar unfreundlich für das modern geschulte Auge. Hinzu kommen außerdem materielle Schwierigkeiten, die auch im Faksimile erhalten bleiben: Zerstörte Manuskriptseiten etwa wegen Löchern im Pergament oder angekokelten Rändern, die durch Bibliotheksbrände entstanden; Verblassung der Tinte oder Verdunkelung des Papiers, sowie unleserliche Flecken durch Fettfinger, verschwommene Tinte oder chemische Tinkturen, die in den Anfängen der Philologie häufiger verwendet wurden, um die Texte kurzfristig lesbarer zu machen.

Diplomatische Edition
Eine diplomatische Edition ist eine erste Transkription des mittelalterlichen Textes. Sie ist sehr behutsam und daher nahe am Original, für den Leser allerdings nach wie vor schwer verständlich. Schriftzeichen werden teilweise in ihrer Eigenheit übernommen, etwa das lange S „ſ“. Auch v oder u, die im Mittelalter miteinander vertauschbar waren, werden so übernommen, wie sie im Manuskript vorliegen.
Die einzigen Eingriffe, die der Philologe vornimmt, sind die Interpunktion, die man als solches nur selten in mittelalterlichen Schriften findet, sowie die Auflösung von Abkürzungen, welche in der Transkription mit kursivem Schriftschnitt übertragen werden (beispielsweise „s̅cta“ → sancta).

Kritische Edition
Die kritische Edition greift ein Stück mehr in den Text ein. Interpunktion und aufgelöste Abkürzungen sind hier ebenfalls gebräuchlich, außerdem wird die mittelalterliche Schrift an moderne Standards angeglichen: das lange s „ſ“ wird durch ein gewöhnliches s ersetzt, v und u normalisiert.
Die kritische Edition verfügt zusätzlich am Fußende der Seite über einen kritischen Apparat, in welchem der Philologe vermerkt, welche Varianten man in den unterschiedlichen Manuskripten zu einem bestimmten Passus gefunden hat bzw. welche unterschiedlichen Lesarten an dieser Stelle möglich sind. Die kritische Edition versucht also Lesbarkeit mit Quellentreue zu verbinden.

Strömungen in der textbasierten Philologie

Im neunzehnten Jahrhundert prägte der deutsche Philologe Karl Lachmann die internationale Herangehensweise und Diskussion rund um das Editieren von Texten. Seine These von der kritischen Edition, von der Reductio ad unum machte Karriere.
Auf der Suche nach dem Original sollte ein Philologe demnach anhand der überlieferten Manuskripte versuchen, den bestmöglichen Text zu fixieren, indem man sämtliche Manuskripte zur Hilfe nimmt. Die kritische Edition sieht vor, dass man ein Basismanuskript auswählt, das man für das beste und dem Original am nächsten erachtet. Anschließend betrachtet man sämtliche Manuskripte der Überlieferung und vergleicht sie anhand ihrer Fehler. Für sein Basismanuskript übernimmt man die besten Möglichkeiten und erwähnt die anderen im kritischen Apparat. Auf diese Weise werden alle Manuskripte auf eines reduziert, man hat eine Reductio ad unum.

Die Problematik dieser Herangehensweise ist, dass das Manuskript nicht länger authentisch ist. Der Philologe erschafft einen Text, den es als solches nie gegeben hat.

Aus diesem Grund entwickelte Joseph Bédier, ein französischer Philologe, eine Gegenthese: Beim Editieren eines Textes solle man die Manuskripte nicht vermischen, sondern vielmehr das perfekte, das am besten geeignetste unter ihnen ausmachen und dieses für die Edition verwenden: den sogenannten Codex optimus.
Der Vorteil dieser Herangehensweise ist, dass hierbei kein neuer Text erschaffen wird, sondern ein bestehender die vollkommene Grundlage bietet. Man spielt dem Leser keine falschen Tatsachen vor.
Dennoch ist Bédiers Methode hart umstritten: Ein Großteil der Philologen bezeichnet es als Kapitulation vor der Problematik, das Original eines Textes zu rekonstruieren. Bédier würde damit die gesamte Arbeit des Philologen unnötig machen. Noch heute wird Lachmanns Methode der Bédiers vorgezogen, wenn sie auch mit mehr Bescheidenheit angewandt wird als es im neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert der Fall gewesen ist.

Die Reductio ad unum Lachmanns hat beispielsweise dazu geführt, dass die Vǫluspá, die sich heutzutage in nahezu allen Fassungen der Lieder-Edda so findet, mit 66 Strophen eine Form besitzt, die es so in keiner Überlieferung gibt. Stattdessen ist sie eine Fusion der Vǫluspá zweier verschiedener Manuskripte.
Diesen Umstand kann man sowohl als Verfälschung als auch als Verbesserung interpretieren.

Das Diasystem

Cesare Segre, ein italienischer Philologe brachte in die Diskussion einen weiteren Begriff ein: das Diasystem.
Segre sagt, dass jeder Text ein internes System hat. Dieses besteht aus Stil, Metaebene, Ideologie des Autors usw. In jedem Menschen gibt es solch ein System und in jedem Text ist ein solches System vorhanden. Bei der Arbeit mit einem Manuskript (sei es die Edition, sei es die Übersetzung) wird ein Philologe mit diesem System konfrontiert. Dabei wendet er sein eigenes System an, es überlappt sich mit dem System des Manuskriptes und heraus kommt ein Diasystem: Also ein System aus zwei sich vermischenden Systemen.
Segre appelliert daran, ein solches System im Text des Manuskriptes zu erkennen und herauszuarbeiten. Viele Varianten in einem Manuskript der Tradition ließen sich so vielleicht auf eine gemeinsame Grundlage zurückführen und könnten so besser bewertet werden. Beispielsweise trifft so etwas zu, wenn man in einer Fassung eines Textes diverse religiöse Komponenten findet, die in anderen Kopien desselben Textes nicht zu finden sind. Willkürlich erscheinende Varianten bekommen so in der Masse und nach richtiger Interpretation ihres Beweggrundes einen gemeinsamen Nenner, der Klarheit verschafft und dem Philologen bei ihrer Bearbeitung hilft.

Ekdotik

Die Ekdotik besteht aus drei großen Arbeitsschritten, die aus kleineren Unterschritten bestehen:

 

1. Recensio

  • Collatio
  • Stemma Codicum
  • Examinatio

2. Emendatio
3. Dispositio

Recensio

Die Recensio ist der erste Teil der Ekdotik. Hierbei werden die Manuskripte gesammelt, systematisiert und ein Überblick verschafft.
Der allererste Schritt besteht aus der Collatio, also der Sammlung aller Manuskripte der Tradition. Diese werden anhand der Fehler miteinander abgeglichen, damit das Stemma Codicum fixiert werden kann. Anhand dessen wird das Manuskript ausgewählt, das die Grundlage für die weitere Arbeit sein soll: Im Falle der Methode Lachmanns ist es das Basismanuskript, in welches alle Änderungen eingetragen werden, im Falle Bédiers ist es der Codex optimus, der nur noch einer Transkription bedarf.
Bei Lachmann fängt nun die eigentliche Arbeit erst an. Bei der Examinatio werden offensichtliche Fehler erkannt und korrigiert. Dabei handelt es sich ausschließlich um Fehler, die als solche gesichert sich und objektiv verbessert werden können.

Emendatio (nur Lachmann)

Der zweite Schritt ist ebenfalls nur bei Lachmann zu finden. Hierbei werden alle Varianten des Textes herausgesucht und der Philologe muss subjektive Entscheidungen treffen. Es ist nicht länger klar aus der Überlieferung ersichtlich, welches Manuskript die richtige Variante überliefert, stattdessen muss der Philologe sich auf eine festlegen und die anderen in den Fußnoten verzeichnen. Hierbei ist großes Geschick und Erfahrung auf dem Gebiet gefragt, um die Entscheidungen bestmöglich zu begründen.
Es gibt zwei Mittel, um die Entscheidungen etwas weniger willkürlich zu fällen. Die erste heißt Usus scribendi, also Schreibgewohnheit. Diese Methode wendet man an, wenn man den Stil des Autors bereits kennt, sei es, weil man andere seiner Texte kennt, sei es, weil man seine Gewohnheiten im vorliegenden Text durchschaut hat. Man kann also anhand dieser Methode sich für jene Variante zu entscheiden, die einem eher dem Usus scribendi des Autors zu entsprechen scheint.
Die zweite Methode ist die Lectio difficilior, also „schwierigere Lesung“. Sie besagt, dass man sich bei mehreren möglichen Varianten stets für die schwierigste entscheidet. Das kommt daher, dass man davon ausgeht, dass die Kopisten bei ihrer Arbeit den Text eher banalisieren als ihn zu verkomplizieren, um ihn der Leserschaft verständlicher zu machen. Aufgrund dessen wird ein Text im Laufe der Zeit und bei jedem Kopiervorgang tendenziell einfacher und banaler als er am Anfang war.

Dispositio

Der letzte Schritt beim Editieren eines Textes ist die Dispositio, das heißt, die Realisierung des Textes in seiner schlussendlichen graphischen Form. Sämtliche Anpassungen sind vorgenommen, er ist bereit, in den Druck zu gehen und veröffentlicht zu werden.