Als Paläographie bezeichnet man die Wissenschaft, die sich mit dem Lesen alter Texte befasst. Dass dies nicht so einfach ist, wie man auf den ersten Blick meinen mag, liegt an verschiedenen Punkten:
Vor der Nutzung von Pergament, verwendete man lange Zeit Papyrus, es wurde erst etwa im 4. Jahrhundert n. u. Ztr. allmählich abgelöst.
Papyrus stammt ursprünglich aus Ägypten und wurde noch bis in die 2. Hälfte des 7. Jahrhunderts hinein für Urkunden verwendet. Texte auf Papyrus sind uns verhältnismäßig selten erhalten
geblieben, da das Material schnell zerfällt.
Für Pergament benötigt man im Gegensatz zum pflanzlichen Papyrus Tierhaut. Diese wird mit Kalklauge gebeizt (nicht gegerbt wie es bei Leder
der Fall ist). Dadurch soll die Haut entfettet, die Haare gelockert werden. Anschließend wird das Pergament mit einem halbmondförmigen Schabeisen gereinigt und zum Trocknen auf einen Rahmen
gespannt. Die Weiterbehandlung unterscheidet sich von Land zu Land, sodass anhand des Pergaments bestimmt werden kann, aus welchem Land bzw. aus welcher Epoche der Codex stammt. So ist das
Pergament der Antike sehr fein, in der Karolingerzeit verwendete man stark geglättete Schafshaut. In Italien war Ziegenhaut üblich, teilweise mit einem Kreideaufguss gebleicht. In Irland und
Großbritannien dagegen verwendete man die Haut von Kälbern und raute sie auf beiden Seiten an, sodass der Unterschied zwischen Haar- und Fleischseite verschwand. Dieses spezielle Pergament wird
Vellum genannt. Ein besonders feines Pergament ist das sogenannte Jungfernpergament — es wird aus der Haut ungeborener Lämmer gewonnen.
Im 12. Jahrhundert tauchte das Papier aus dem Orient auf, der es wiederum aus China importiert hatte. Das erste Herstellungszentrum auf
europäischem Boden befand sich in Valencia in Spanien. Die Standardmaße des Papiers führten zu einer Normierung der Buchgröße, die man vorher noch nicht kannte.
Auch die Tinte unterschied sich in den verschiedenen Ländern. Die Farben variierten von Dunkelgelb über Olivbraun bis hin zu beinahe Schwarz.
Zum Verzieren verwendete man auch andere Farben wie Rot, Blau, Grün und Gelb.
Zu der klassischen Schreibausrüstung eines Mönches gehörten ein Schreibrohr (calamus) oder eine Feder, Kreide, Bimssteine, zwei Tintenhörner für Rot und Schwarz, ein scharfes Messer, ein
Rasiermesser zum Radieren, eine Ahle, Blei, ein Lineal, ein Linierstock und ein Zirkel.
Als Codex (Plural Codices) bezeichnet man ein mittelalterliches Manuskript in Buchform. Er besteht aus gefalteten und zu Lagen zusammengefassten Papier- oder Pergamentblättern, die durch einen
Einband zusammengehalten werden. Meist wird ein Blatt viermal gefaltet und schließlich gebunden, dann spricht man von einem Quaternio (4to),
in England und Irland sind es dagegen häufiger fünf Lagen, also ein Quinio.
Bei Pergamenthandschriften sind die homogenen Seiten einander meist zugewandt, das heißt Fleischseite zu Fleischseite, Haarseite zu Haarseite. Die Lagen werden nummeriert. Bei der Seitenzählung
gilt, dass ein Blatt (folio) nur eine Seitenzahl erhält. Die Vorderseite wird als recto (r), die Rückseite als verso (v) bezeichnet. Anders als bei modernen Büchern werden also nicht die Seiten gezählt (Foliierung nicht Paginierung).
Die Formate der Codices können sowohl riesige als auch winzige Ausmaße annehmen, zu den kleinsten gehört etwa ein Johannesevangelium aus
Paris mit 7x5 cm. Meist sind sie quadratisch oder in Hochformat (seltener im Querformat), mitunter mit extremen Proportionen.
Auch die Einbände konnten stark variieren. So gibt es beispielsweise Prachteinbände aus Gold, Silber, Elfenbein usw., mit Leder überzogene feste Holzdeckeleinbände mit eventuellen
Metallbeschlägen (häufigste Form) oder die schlichten Leder- oder Pergamentumschläge (den sogenannten Koperteinband).
Jeder Codex wird heutzutage mit einer Signatur versehen, die ihn von allen anderen Codices abhebt. Diese ist häufig nach folgendem Schema dargestellt: Abkürzung der Bibliothek oder Sammlung, in
welcher der Codex aufbewahrt wird, eine Nummer sowie die Zahl der Doppelblätter (Quarto „4to”, folio „fol.”).
Der Codex Regius der Lieder-Edda heißt beispielsweise GKS 2365 4to, gehört also zur Gammel Kongelig Samling und wurde aus mehreren Viererdoppelblättern zusammengefasst.
Der Codex Wormianus der Snorra Edda trägt die Signatur AM 242, fol., gehört also zur Arnamagnäanischen Sammlung (Sammlung des Árni Magnússon), „fol.” ist die Abkürzung für „folio”, also das Blatt
einer mittelalterlichen Handschrift.
Wenn die Codices an andere Bibliotheken weitervermittelt werden, werden die Signaturen meist beibehalten. In manchen Fällen tragen sie allerdings auch zwei verschiedene Signaturen, was für
Verwirrung sorgen kann.
Anders als heutzutage war Schrift im Mittelalter nicht nur eine Sache von Schreibusus und eigenen Angewohnheiten, sondern zu großen Teilen auch abhängig von Konventionen, die die jeweilige
Schriftart diktierte. So standen unterschiedliche Schriftarten zur Auswahl (Halbunziale, Karolingische Minuskel, Gotische Textura usw.), die ein Mönch beherrschte und je nach Bedürfnis anwendete.
Es gab eine klare Hierarchie der Schriften, die Capitalis etwa für Überschriften, die Unziale für Unterüberschriften oder die ersten Zeilen, die Halbunziale für den Fließtext.
Vom Schrifttypus ist es auch abhängig, wie stark die Wörter gekürzt werden. Die Halbunziale und Karolingische Minuskel etwa werden kaum gekürzt, die Beneventana oder die humanistischen Schriften
weitaus mehr.
Variationen gab es natürlich dennoch, diese waren häufig vom Kloster abhängig, in dem der schreibende Mönch lebte. Insbesondere in Klöstern wurden auch neue Schriften erfunden und
weiterentwickelt. Solche Schriften verbreiteten sich durch das Ausleihen von Codices an andere Klöster oder wandernde Mönche. Es ist allerdings auch zu beobachten, dass Mönche, die in ein anderes
Kloster wechselten, dessen neue Schriftkonventionen annahmen.
Oft wurde ein Manuskript von mehreren Kopisten angefertigt, wobei diese ihren jeweiligen Abschnitt häufig signierten.
Die verschiedenen Schrifttypen wurden auch von der Handhaltung beim Schreiben (aufgestellt, flach aufliegend usw.) sowie dem Federkiel beeinflusst, der unterschiedlich zugeschnitten werden
konnte.
Unter einer Ligatur versteht man eine Verschmelzung von zweien oder mehreren Buchstaben. Gerade bei kursiven Schriftarten wird der eigentliche Grundbuchstabe dabei gründlich entstellt. Bei
anderen Schriften sind die Ligaturen noch gut aufzulösen; meist muss man sie jedoch aus dem Wortsinn heraus erschließen. Ligaturen werden gewöhnlich durchgehend (natürlich mit Ausnahmen) in einem
Manuskript verwendet, sie sind also keine zufällige Laune in einem Wort, sondern werden bei sämtlichen gleichen Buchstabenfolgen so angewandt.
Sehr häufige Ligaturen sind die Buchstabenfolgen n-t, t-e, e-t und Ligaturen mit i am Wortende (t-i, r-i, usw.).
Als tironische Note bezeichnet man das Symbol, das in Manuskripten das „und” ersetzt (also „et” in Latein, „ok” im Altnordischen usw.). Sie wird durchgängig verwendet und kann sehr unterschiedliche Formen annehmen. Meist gleicht sie einer 7 oder einem Z, zumindest mehr oder weniger.
Ein Palimpsest ist ein Manuskript, in dem zwei Texte übereinander geschrieben wurden. Da Pergament teures Material war, passierte es mitunter, dass ein nicht mehr zu gebrauchender Text auf den Seiten weggekratzt und ein neuer darüber geschrieben wurde. Spuren des alten Textes sind dennoch zu erkennen und können mithilfe von spezieller Lichtstrahlung oder Tinkturen wieder sichtbar gemacht werden.
„Abbreviation” ist der Fachausdruck für eine Abkürzung in einem mittelalterlichen Manuskript. Für moderne Leser erschweren sie das
Verständnis eines Textes erheblich, meist sind sie allerdings nach gewissen Regeln aufgebaut. Abkürzungen werden durch ein Zeichen angezeigt, etwa einen Strich, der sich oberhalb des
letzten Buchstabens vor der Weglassung befindet. Ein Punkt auf der Grundlinie, wie wir ihn heute kennen, war damals eher unüblich. Generell können Abkürzungszeichen in ihrer Form stark variieren,
von Strichen über Wellen und Zacken ist alles denkbar. Bei der Transkription (also dem Übertragen des mittelalterlichen Textes in eine
moderne Schrift) von Abbreviationen wird das Wort ausgeschrieben, die weggelassenen Buchstaben kursiv gesetzt (beispielsweise k͞gr = konungr).
Man unterscheidet zwischen zwei verschiedenen Arten der Abkürzungen:
Die Menge der Abbreviationen ist in großen Teilen von der verwendeten Schriftart abhängig. Die sogenannten nomina sacra, also heiligen Namen, werden aber immer abgekürzt. Dazu
gehören:
Die Endung der Abbreviation ist von der Endlung des deklinierten Subjektes abhängig. Im Falle von XPS handelt es sich um eine Abkürzung, die aus dem griechischen ins lateinische Alphabet
importiert wurde (Χριστός).
Weitere typische Abkürzungen sind die drei lateinischen p mit jeweils unterschiedlichem Kürzungsstrich (per, pre/prae und pro), das -m bei den Endungen lateinischer Deklination
(-um, -am, usw.), das Wort „sein” in den verschiedenen Sprachen und Konjugationsformen (lat. esse, est; an. vara, er) u.a.
Häufig stehen kleine Buchstaben oberhalb des Grundbuchstaben des abgekürzten Wortes. Diese erleichtern die Lesung ohne tatsächlich viel Platz einzunehmen. Mitunter ist es jedoch schwierig, sie von Kürzungsstrichen zu unterscheiden.
Die meisten Schriften werden in ein Vierzeilensystem eingefügt. Das Mittelband (der Buchstabenkörper) liegt auf der Grundlinie auf und wird oben von der Kopflinie abgeschlossen. Unterlängen reichen in die Zeile darunter, Oberlängen in die Zeile darüber.
Bei den verschiedenen Schrifttypen wird vor allem zwischen den kalligraphischen und den kursiven Schriften unterschieden. Die kalligraphischen Schriften bestehen aus Buchstaben, die sich aus verschiedenen Bausteinen zusammensetzen und deren
Aufbau insgesamt bewahrt wird. Zierstriche sind erlaubt, es ist gleichgültig, wenn die Feder zur Realisierung des Buchstabes mehrere Male abgesetzt werden muss. Sie entsprechen „Druckbuchstaben”.
Mutationen, das heißt stark veränderte Buchstabenformen finden sich nur selten.
Die Kursive bezeichnet dagegen alle „Schreibschriften”, also Schriften, die flüssig sind. Die Buchstaben werden hier als Ganzes erfasst und mit den angrenzenden Buchstaben verbunden, wobei sich
die Formen mitunter auflösen. Zierstriche fallen weg, stattdessen wird vereinfacht. Die Endschwünge werden nach oben und unten verlängert, um die Buchstaben miteinander zu verbinden, das zieht
meist auch die Schrift in die Länge. In diesen Schriften kommen Ligaturen umso häufiger vor, mitunter gar ganze Ligaturenketten, die sehr schwierig aufzulösen sein können.
Die Capitalis ist die lateinische Monument-Schrift. Sie gehört zu den Majuskeln, wird also in Großbuchstaben geschrieben (Zweizeilensystem). Aufgrund ihrer Nähe bzw. Gleichheit zu unseren heutigen Majuskeln, ist sie nicht weiter schwierig zu entziffern. Bemerkenswert ist einzig die Austauschbarkeit der Buchstaben U und V, welche auch in eine Vielzahl der nachfolgenden Schriften übertragen wurde.
Man unterscheidet zwischen Capitalis Quadrata und Capitalis Rustica, letztere wurde schließlich von der Unziale ersetzt. Die Capitalis wird auch noch nach der römischen Epoche verwendet, auch als Buchschrift. Dort tritt sie allerdings nur noch als Schrifttyp für Überschriften auf. Tendenziell wird die Capitalis kaum gekürzt.
Die Unziale entwickelte sich aus der römischen Kursive heraus und ist ebenfalls noch sehr leicht lesbar. Sie ist eine Majuskel, allerdings sind ihre Formen runder und zierlicher. Sie wird häufig für Überschriften oder Unterüberschriften verwendet.
Auch die Halbunziale entwickelte sich aus der jüngeren Kursive, man unterscheidet zwischen Älterer (östliche) und jüngerer Halbunziale. Ihre Ursprünge liegen in Afrika, was die Bezeichnung
litterae Africanae nahelegt. Trotz ihrer Namensverwandtschaft zur Unziale ist sie keine direkte Nachfahrin derselben, auch ist sie keine „schlechtere” oder niveaulosere Schrift als die Unziale.
Sie wurde vor allem im 5. bis 9. Jahrhundert verwendet.
Die Jüngere Halbunziale stellt den Übergang zwischen Majuskel- und Minuskelschrift dar. Sie ist sehr regelmäßig mit starken Ober- und Unterlängen und einer Betonung des Mittelbandes.
Aus ihr entwickelten sich Schriften wie die Insulare und auch für die Karolingische Minuskel gilt sie als Vorbild. Wichtig ist sie insbesondere deswegen, weil in ihr erstmals das lateinische
Kleinalphabet verwirklicht wurde.
Unter der insularen Schrift versteht man die Schrift, die in Irland verwendet wurde. Sie wurde wohl im 4. Jahrhundert importiert und entwickelt, erste Denkmäler finden sich ab dem 6. Jahrhundert.
Ihr Vorbild war ein italienischer Typ der Halbunziale.
Aufgrund der großen Missionierungstätigkeiten der irischen Mönche wurde die insulare Schrift auch weit auf dem Festland verbreitet und findet sich daher in Klöstern und Schreibschulen, wo man sie
nicht vermuten würde (etwa St. Gallen, Fulda oder Luxeuil).
Die Merkmale der Schrift sind ihre spachtelförmigen Ansätze („Wolfszahn”) am Buchstabenanfang und -ende. Außerdem werden die Initialen mit roten Punktierungen umrandet, was sich später über ganz Europa verbreitet. Ein weiteres Merkmal ist die mitunter befremdlich wirkende Anordnung von Initialgruppen, bei denen die Buchstaben scheinbar chaotisch aufscheinen: Dies liegt am Einfluss der früher in Irland verbreiteten Ogham-Schrift, welche senkrecht auf Steinen angebracht wurde.
Die angelsächsische Schrift entwickelte sich im 7. Jahrhundert und wurde stark von irischen Missionaren geprägt. Wie auch die insulare Schrift verbreitet sie sich aufgrund wandernder Mönche aufs
Festland weiter und begegnet daher in einigen deutschen Manuskripten, so etwa dem sächsischen Taufgelöbnis, im Hildebrandslied oder im Wessobrunner Gebet.
Besonders auffallend an der Schrift ist die Verwendung von Runen im Text: Thurisaz ᚦ („thorn”) wird als stimmloser th-Laut verwendet (und überlebt bis heute in Island), Wunjo ᚹ („wynn”) erscheint
als W. Als weiterer Buchstabe wird ð („eth”) für den stimmhaften th-Laut verwendet, er wird allerdings im 12. Jahrhundert aufgegeben (überlebt allerdings ebenfalls bis heute in Island).
Eine weitere Besonderheit sind die unterschiedlichen G: Das eine stellt die unterschiedlichen Reibelaute („j”), das andere die Verschlusslaute dar („g”).
Die karolingische Minuskel wurde im Auftrag oder in der Nähe von Karl dem Großen erfunden, wie genau ist nicht bekannt. Da er Kunst und Wissenschaft förderte, unterstützte er auch das
Ansinnen einer neuen Schrift. Die Buchstaben sollten genormt werden, auch das Abkürzungsverzeichnis, und somit das Lesen insgesamt erleichtert werden. Nicht alle Schreibschulen in seinem Reich
nahmen die karolingische Minuskel jedoch an, häufig wurden die gewohnten Schriften lediglich ein wenig angepasst. In den deutschen Schulen schlägt sich die angelsächsische Schreibgewohnheit auch
in der karolingischen Minuskel nieder.
Die Schrift verbreitet sich schließlich über ganz Europa, einzig in Süditalien verwendet man die Beneventana. Ab dem 9.-11. Jahrhundert bricht die Schrift auseinander und verändert sich wieder
stark. Nach England kommt sie erst mit dem 10. Jahrhundert.
Die karolingische Minuskel lässt sich sehr leicht lesen, wird wenig gekürzt und ist durch klare Linien gekennzeichnet. Aus ihr entwickelt sich schließlich die Gotische Textura.
Die Gotische Textura entwickelt sich im 11. Jahrhundert in Belgien und Nordfrankreich aus der karolingischen Minuskel, der sie allmählich entwächst. Merkmale der Schrift sind die Aufrichtung der
Schäfte und Buchstaben sowie dass die meisten der Buchstaben auf der Zeile stehen. Insgesamt nimmt sie die unterschiedlichsten Formen an.
Mit der Zeit verbreitet sich die Schrift über ganz Europa und schließlich von England nach Island.