Wir hängen Göttern an, die nicht nur aus einer anderen Zeit, sondern aus einem gänzlich anderen Kontext stammen. In dem Gastartikel »Die germanische Gottheit und der moderne Mensch« geht Askatasuna genauer auf diese Problematik ein. In der Essenz heißt es dort, dass sich nicht nur die Menschen in diesen tausend Jahren verändert haben, sondern auch die Götter einem Wandel unterlagen. In gewisser Weise ist diese Ansicht sogar historisch belegbar: Man kann durchaus nachweisen, dass sich die Götter bereits während der Zeit ihrer Anbetung stark in ihrer Bedeutung variierten – sei es, weil bestimmte Lebensbereiche an Wichtigkeit gewannen, sei es, weil bestimmte Völkergruppen ihnen neue Rollen zuwiesen.
Ein Gott, wie von uns gemacht
Die erste Frage, die sich also stellt, ist, ob und inwiefern sich die Götter verändert haben. Natürlich ist es zu einfach zu behaupten, dass Kult und Mythologie zeitlos sind, um auf diese Weise
die Problematik einfach beiseite zu wischen, die nun einmal tatsächlich existiert: Wir Menschen der Moderne haben mit dem germanischen Stammesmitglied nichts mehr gemein.
Dieser letzte Punkt ist nicht wegzudiskutieren und birgt ein ernstes Problem, auf das sich diese Artikelreihe beziehen wird, allerdings betrifft er den Menschen, den Gläubigen, nicht die Götter.
Setzt man diese nämlich mit uns gleich (»wir haben uns verändert, also haben sich die Götter verändert«), läuft man viel zu schnell Gefahr, die Götter zu etwas Beliebigen zu degradieren, zu einem
Spiegelbild persönlicher Umstände.
Ich selbst hege nämlich ich die Einstellung, dass Götter autonome Wesen sind, das heißt, ihre Persönlichkeit hängt nicht davon ab, wie ich sie als Gläubige betrachte. Mein individueller Blick auf
sie prägt natürlich mein Verständnis, ähnlich wie mein Umgang und meine Haltung die soziale Interaktion mit anderen Menschen beeinflusst: Was ich sehen will, sehe ich, und was ich nicht sehen
will, erkenne ich nicht; wie ich frage, so erhalte ich Antwort, und wie ich antworte, so verändert sich die Beziehung.
Der Unterschied zwischen Göttern und Mitmenschen besteht natürlich darin, dass Götter niemals tatsächlich in Erscheinung treten, unsere Erfahrungen mit ihnen sind daher in jedem Fall höchst
subjektiv und nur sehr schwer zielgerichtet zu hinterfragen. Nichtsdestotrotz sehe ich darin keine Bestätigung, dass Götter so sind, wie wir sie uns wünschen – das würde jeden sinnvollen Ansatz
eines Glaubens (oder zumindest eines altgermanischen Glaubens) untergraben. Nur weil sich ein Gott mir nicht in deutlichster verbaler Form mitteilen kann, kann ich ihm andichten, was ich möchte?
Eher nicht.
Ein Gott der Moderne ist aber genau das: Er wird aus seinem eigentlichen Umfeld gelöst und in das Umfeld des Gläubigen transportiert. An dieser Stelle ist seine Gestalt bestenfalls ein Schatten
seiner selbst, eine Interpretation eines Menschen, aber keinesfalls mehr der eigentliche Gott.
In meinen Augen – und diese Haltung wird hier auf Eichenstamm vertreten – haben die »heidnischen«, germanischen Götter ihren Ursprung in der Natur. Und dort bleibt ihre Wurzel und dort bleibt ihr
eigenes Wesen verankert.
Die Natur aber entwickelt sich deutlich langsamer als es der Mensch tut, für das menschliche Auge steht sie nahezu still, sieht man von den periodischen Wandlungen ab und betrachtet einzig die
nur in eine Richtung strebende Evolution. Auch wenn wir Menschen also in Flugzeugen um die Weltkugel rasen und dabei sogar die Sonne überholen, dreht sich die Erde dennoch in der (annähernd)
immer selben Geschwindigkeit.
Ich komme also zu dem Schluss, dass sich die Götter nicht in großer Weise verändert haben, sondern dass ihr Wesen noch immer zwischen den Wurzeln in den Tiefen der schwarzen Erde ruht.
Die zwei Strömungen innerhalb der Asentreue
Warum sollte jemand Anhänger des Asenglauben werden wollen, einem Glauben, der so alt und »überholt« ist? Was macht die Asentreue aus, dass sie nach über tausend Jahren plötzlich wieder so großes
Interesse weckt?
Von einem Interesse zu Germanen und Wikingern einmal abgesehen (das ist zwar sicherlich nützlich, aber sollte keinesfalls die Basis für einen Glauben sein), stehen als Grundlage hoffentlich die
Götter. Eine Faszination für die Götter vielleicht, der Reiz, der von den Mythen ausgeht. Vielleicht sogar eine persönliche Begegnung mit den Göttern oder eine mystische Erfahrung. All diese
Ansätze sind erst einmal zeitlos, das heißt, nur weil wir in der Moderne leben, bedeutet das nicht, dass so etwas nicht mehr möglich ist: Faszination oder mystische Erfahrungen.
Hier ist bereits eine erste Beobachtung festzuhalten: Die Götter, die wir in den Quellen kennenlernen, ja selbst die Götter, die uns in Wikingerfilmen und -serien wie »Vikings« gezeigt werden,
sind keine modernen Götter, die in die heutige Zeit passen, sondern das historische Bild dieser Gottheiten: Urige, brachiale Kräfte, die sich grob und kriegslüstern, weise und bedächtig
präsentieren, von denen ernst und humorvoll erzählt wird und die in einer so farbenprächtigen Welt leben wie wir sie uns kaum noch vorstellen können. Das sind die Götter, die uns faszinieren; das
sind die Götter, die uns in die Ásatrú ziehen. Es sind alte Götter und wenn wir sie als zeitlos bewerten, dann akzeptieren wir, dass sie in ihrer Gestalt nicht »aktualisiert« werden können.
Die Schwierigkeiten beginnen in dem Moment, in dem wir nicht nur an diese Götter glauben wollen, sondern mit ihnen in Beziehung treten wollen. Wenn wir uns fragen, wie wir sie ansprechen sollen,
wie wir ihnen gefällig sein können, welchen Umgang wir mit ihnen pflegen sollen. Und hier ziehen wir unsere Ideen aus der Geschichte: Wie riefen die Germanen ihre Götter an? Wie opferten
sie?
Das ist der entscheidende Schritt – hier kommt der Kult ins Spiel, und mit dem Kult die Frage, wie wir ihn ausüben sollen. Diese Beobachtung ist wichtig, denn sie präzisiert, worauf wir unsere
Aufmerksamkeit lenken müssen, was wir verändern müssen: Nicht die Götter, nicht die Mythologie. Das ist unsere Basis, unsere unveränderliche Basis, die keinesfalls gewandelt werden darf. Sie sind
die Konstanten der Asentreue – verändern wir diese Grundlagen, dann rauben wir dem Glauben die Essenz und könnten genauso gut zu einer anderen Spiritualität übertreten.
Nicht der Inhalt unseres Glaubens, sondern unser Umgang damit braucht also einen zweiten Blick: Wenn die letzten Quellen für den germanischen Kult, ehe er ausgerottet wurde, gute tausend Jahre
alt sind und wir bereits oben festgehalten haben, dass wir mit dem germanischen Stammesmitglied oder mit den skandinavischen Winkinger nichts mehr gemein haben – wie sollen wir dann ihre
kultischen Praktiken einfach übernehmen? Sie passen nicht mehr auf uns, Tier- und Menschenopfer, sakrale Gesänge, Formen des Weihens – all das sind Dinge, die uns vollkommen fremd sind, die uns
vielleicht sogar anwidern, die wir schlicht nicht kennen. Wie also sollen wir zu diesen alten Göttern Kontakt aufnehmen?
Da die Götter als Konstante bereits feststehen, haben wir nur noch zwei Variable, die wir anpassen können: den Gläubigen (Ausübenden) oder den Kult.
Wir haben also zwei Möglichkeiten:
- Die Anpassung des Ausübenden an den Kult (Rekonstruierung)
- Die Anpassung des Kultes an den Ausübenden (Modernisierung)
Beide Varianten bringen große Problematiken mit sich, keine von beiden ist der anderen durch leichtere Durchführbarkeit überlegen. Die Frage ist, ob sie miteinander unvereinbar sind und ob daraus
zwangsläufig zwei Strömungen innerhalb der Ásatrú entstehen müssen. Und welche Schritte müssen jeweils getan werden, wenn man sich für den einen oder den anderen Weg entscheidet?
Ist die Alte Sitte überlebensfähig?
Die beiden Wege müssen genauer beleuchtet, ergründet werden. Und man muss sich die Frage stellen, ob die Beschreitung des jeweiligen Weges möglich ist oder ob sie zu unlösbaren Problemen führt.
Das Beängstigende dieser Fragestellungen ist die darüber schwebende Klinge der Guillotine: Was ist, wenn die Ergründung der Frage in eine Sackgasse führt? Was, wenn die Antwort schließlich sein
muss, dass die Alte Sitte nicht fortbestehen kann, da weder Modernisierung noch Rekonstruktion Möglichkeiten sind, die wir sinnvoll zu Ende führen können?
Beide Interpretationen, beide Wege kranken nämlich an demselben Schicksal: Der alte Kult und der moderne Mensch sind nicht ohne weiteres kompatibel. Eine Anpassung ist notwendig, entweder des
Kultes oder des Menschen. Und beides ist nicht so einfach hinzunehmen. Wie viel Sinn ergibt es, wenn ein Mensch sich so weit einem Glauben unterwerfen muss, dass es sein Leben auf den Kopf
stellt? Und wie viel Sinn ergibt es, einer Sitte anzuhängen, welche es so niemals gab, die man regelrecht aushebeln muss, um sie an sein Leben anzupassen?
Hier stellt sich die Frage: Ergibt es denn überhaupt Sinn, als moderner Mensch der Alten Sitte anzugehören?
Die Frage wird viel zu oft vernachlässigt, wird »nebenbei« abgehandelt, dabei ist die der Wurm in der Wurzel. Diese Krise des Kultes korreliert nämlich mit der allgemeinen Kritik, welche die
moderne „Heidenszene“ trifft: nämlich genau der fehlende Kult, die fehlenden Resonanzerfahrungen, das fehlende Erschauern im Angesicht der Götter.
Ich vermute mangels tatsächlicher Beschäftigung mit tieferen Sphären des Asenglauben kommt dieser bis heute im modernen Ásatrú kaum zustande. Und mit den tieferen Sphären meine ich keine
historischen Fakten, Quellenforschung oder kritische Eddalektüre, die ich sonst auf Eichenstamm so unermüdlich predige, sondern das Wesen des Glaubens, die Zwecke eines Glaubens für den Menschen
allgemein, kurzum: die anthropologischen, soziologischen und religionswissenschaftlichen Wurzeln. Es geht nicht um den Inhalt des Glaubens, sondern um die Beziehung, die dieser zwischen Göttern
und Menschen schafft und die derzeit in sämtlichen Heidengemeinschaften schändlich vernachlässigt werden.
Wohl weil solche Betrachtungen fehlen, ging es bei diesen Gruppierungen niemals wirklich um irgendeinen Kult, zumindest nicht ernsthaft. Rituale wurden und werden gemacht, weil es wohl irgendwie
dazugehört, Fragen nach moderner oder altertümlicher Durchführung spielten vermutlich nur am Rande oder maximal aus dekorativen Zwecken eine Rolle. Wir haben also Menschengruppen, die an der
Begegnung mit Göttern durchaus Interesse haben, sich aber um keinen Kult bemühen.
Und hier kommen wir an den springenden Punkt. Bezeichnenderweise dümpeln genau diese Vereine herum, haben hohe Mitgliederzahlen und dennoch keine Aktivität. Anhänger beklagen ein zu geringes
Angebot und die Inhalte der stattfindenden Veranstaltungen.
Ganz so einfach ist es offensichtlich nicht, schlicht die Götter des Asenglaubens zu übernehmen, aber den Kult kaum zu beachten. Kult und Glaube gehen Hand in Hand, wer die Beziehung zu den
Göttern nicht kult-iviert, der wird sie auf Dauer nicht in wünschenswerter Beständigkeit aufrechterhalten können. Kult und Alte Sitte gehören also untrennbar zusammen, und wenn der Kult krankt,
so krankt der ganze Baum.
Also sind wir doch zu einer Entscheidung gezwungen, wir können die Frage nicht umgehen: Modernisieren oder rekonstruieren wir den Kult?
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Fischer (Samstag, 06 Juli 2024 19:53)
Servus.
Schon als Kind war ich von den germanischen Sagen (auch den keltischen) begeistert und fasziniert. Wegen der einfachen, sich anpassenden Weise. Die Götter und Helden sind nicht star. Sie haben ihre Fehler, Zweifel
Da ich in der DDR aufgewachsen bin, hatte ich wenig bis nichts mit dem Christentum (für mich zusammengeklaut und arm, sehr arm in Lehre und Mitnehmen), war ich sozusagen ein Atheist (das im Ursprünglichem Sinne). Erst durch den Tod (und Nachbetrachtungen an Erinnerungen) meiner Mutter und ihrer geschichte, erkannte ich, das Menschen auch eine Inkarnisation von Göttern sein können.
Mit der Zeit bekam ich für mich, nicht nur durch Lesen, mehr Einsicht und innere Erkenntnisse über Götter, Wesen der Sitten, Kult unserer Ahnen.
Ich bin ja mehr ein Anhänger der Wanen (auch wenn ich Tius-Tiwaz und Thor achte). Meine Schutzgötter sind Freya, Sunna und Erce. Und ich kebe es auf meine Weise.
Ich mache Vereinbarungen mit meinen Göttern. Kein großes Bromborium. Einfache Absprachen über Dinge, die mehr außerhalb meines Erreichbarkeitsbereich liegen.
Ich opfere mit kleinen Wegkippens von Getränken, Essensresten etc.
Gebete brauchen keinen besonderen raum oder Ort. Und auch keinen Aufwand und Gesten.
Wollte nur meine Sichtweise und das entsprechende Ausleben wiedergeben.