Von Askatasuna
Ein unüberwindbarer Unterschied
Teil 1
Viele Neuheiden sind Hobbyhistoriker. Das ist nicht polemisch gemeint, im Gegenteil. Aber die Tatsache bezeugt, welchen Fokus das Nachdenken über das „Neuheidentum“ hat: Wir befassen uns gerne
mit Quellen (oder dem, was davon übrig ist). Die Analyse gilt historischen Befunden und deren gewaltigem Interpretationsspielraum. Der wird umso größer, je länger der Jäger seiner Fährte folgt.
Wir rennen in eine Falle, die schon sprachlich nach uns schnappt: Das „Neuheidentum“ werden wir im Gestern niemals finden, weil es im Entstehen begriffen ist – es findet heute statt. Das
aber heißt: Wir lenken uns von unseren Zweifeln ab, wenn wir uns mit den Eventualitäten der Geschichtswissenschaft beschäftigen. Welche Hinweise wir haben und wie sie zu rekonstruieren sind, ist
zweifellos spannend; die Geschichte liefert uns elementares Material. Aber die Kernaussage dieser Suche war immer, wie viel Wissen sich über die Jahrhunderte verflüchtigt hat. Sie ist ein
negatives Resultat. Wir haben keine Ahnung – gerade Autoren wie Eichenstamm weisen uns dauernd darauf hin. Deshalb müssen wir Wege finden, aus dem Wenigen, was übrig ist, Großes zu schaffen. Nur,
und damit komme ich zum Punkt, ist die historische Rekonstruktion unser kleinstes Problem: Wirklich schwierig ist nicht, dass sich der Gegenstand (unser Wissen über das Heidentum), sondern dessen
Beobachter im Laufe des letzten Jahrtausends verändert hat. Verloren gegangen ist nicht einfach der Glaube, sondern der Gläubige.
Wir haben das oft nicht diskutiert, weil es in unseren Reihen viele Historiker, aber kaum Sozialwissenschaftler gibt (und so entwickelten wir die Ásatrú auch nicht interdisziplinär): Es gibt eine
subjektive Entwicklung des Menschen und eine intersubjektive Entwicklung, die seine Gemeinschaft macht. Verändert haben sich nicht nur unsere Sozialstrukturen und Artefakte, unsere
Wirtschaftsformen und Technologien, sondern auch das, was unsichtbar ist: Die Art, wie sich der Mensch selbst wahrnimmt, wie er sich auf seine Gemeinschaft und seine Welt bezieht. Ich meine damit
jenen Bereich unserer Sozialgeschichte, den der Soziologe Jürgen Habermas kritisch analysiert:
„Habermas greift zur Unterscheidung verschiedener Differenzierungsstufen auf Konventionen der klassischen Soziologie zurück und zieht eine Entwicklungslinie von
Stammesgesellschaften über traditionell-staatlich organisierte Gesellschaften bis zu modernen Gesellschaften. Jede Entwicklungslinie lässt sich durch neu auftretende Systemmechanismen und
Komplexitätsniveaus unterscheiden und jeweils in den Perspektiven von System und Lebenswelt betrachten. In Anschluss an Durkheim bestimmte Habermas Stammesgesellschaften in der Perspektive der
Lebenswelt als soziokulturelle Lebensformen mit einem ausgeprägten Kollektivbewusstsein, innerhalb dessen nicht zwischen objektiver, sozialer und subjektiver Welt unterschieden wird.
Institutionen, Weltsicht und Personen korrelieren und stehen in einem umfassenden Sinnzusammenhang, der von einem Mythos gestiftet wird, sodass Stammesgesellschaften immer als Kultgemeinschaft
begriffen werden müssen, die sich über die Auslegung des Mythos symbolisch reproduzieren. Das Potential kommunikativer Verständigung ist im Mythos verschlossen. Umfassende Sozialstrukturen
existieren in Stammesgesellschaften nicht. An einzelne Interaktionen schließen keine längeren Handlungsketten an, so dass die soziale Welt der gemeinsam erlebten Welt gleicht. Die soziale
Zugehörigkeit und Position werden über das Verwandschaftssystem bestimmt. Rollen werden einzig hinsichtlich des Geschlechtes, der Abstammung und der Generation unterschieden. Die entscheidende
soziale Differenz wird über den Status der Familienzugehörigkeit markiert. Da das gesamte Leben der Einzelnen innerhalb ihrer Sippe vollzogen wird, sind Lebenswelt und System nicht
geschieden.“
Baum, S. 141
In der Soziologie nennt man das Indifferenz: Stammesgesellschaften befinden sich in einem kulturellen Entwicklungsstadium, in dem der
Einzelne (das Subjekt), die Gemeinschaft (das Soziale) und die Welt (als Objekt) noch nicht ausdifferenziert sind. Das ist für Menschen der Spätmoderne quasi unvorstellbar; wir können es
bestenfalls beobachten, wenn wir zu isolierten Stammesgesellschaften im Amazonas fahren. Aber genau das wird so prägend wie unverständlich (und oft banal wirkend) sein: Diese Menschen stellen
sich nicht als Individuen ihren Gemeinschaften gegenüber, weil sie mit diesen verwoben sind. Sie arbeiten nicht für Geld, sondern für das Überleben ihres Stammes, der wiederum nicht unabhängig
von seiner Umwelt existiert, sondern magisch mit dieser verschmolzen ist. Das ist nicht bloß eine Perspektive, die der Eingeborene einnimmt, sondern eine psychosoziale Konfiguration, in der es
noch gar kein entkoppeltes Subjektkonzept gibt, das die es umgebende Welt kritisch-objektiv erlebt – jedenfalls nicht so, wie wir das tun. In diesem kulturellen Entwicklungsstadium fangen
Subjekte sozusagen erst an, sich loszulösen. Pointiert formuliert könnte man sagen: Bevor wir Menschen uns in Stämmen erkannten, haben wir wie Tiere gelebt.
Solche Ideen sind interdisziplinär verbreitet: Der Psychologe Clare W. Graves (1914-1986) nahm an, dass die mentalen Erlebnisebenen mit konkreten Kulturstufen zusammenhängen, in die die Menschen
eingebunden sind und die zu spezifischen Wertesystemen führen. Weiterentwickelt in den sogenannten Spiral Dynamics wird die Theorie heute in Politik und Wirtschaft angewandt. [1] Der
Entwicklungspsychologe Jean Piaget (1896-1980) zeigte auf, wie sich der Einzelne in seiner Lebensgeschichte durch genau solche Stadien entwickeln muss – was die Pädagogik noch immer nachhaltig
prägt. Lawrence Kohlberg (1927-1987) hat äquivalent dazu in den Erziehungswissenschaften sein Stufenmodell der Moralentwicklung vorgestellt: Auf jeder Entwicklungsebene von Kultur und Subjekt
treten spezifische Moralvorstellungen auf, anhand derer Verhalten bewertet wird. Und Abraham Maslows (1908-1970) Bedürfnispyramide schließlich ist mittlerweile derart bekannt, dass ich sie kaum
vorstellen muss. Mit diesen Modellen lässt sich präzise nachvollziehen, wieso ein Kind ein Märchen intensiver und magischer als ein Erwachsener wahrnimmt. Sie erklären aber auch, was zwischen uns
und den Germanen liegt: eine Reihe fundamentaler Entwicklungsschritte, während derer sich der Mensch samt seiner Gemeinschaft rapide gewandelt hat.
Nun waren die Germanen keine animistischen Gemeinschaften mehr. Ein Vergleich etwa mit Stammeskulturen im Amazonas hinkt nicht nur historisch (wir können nicht einfach historische Stämme genauso
wie bis heute existierende interpretieren), sondern auch soziologisch, weil es sich bei „den Germanen“ bereits um größere Stammesgesellschaften gehandelt hat, in denen die sozialen
Zusammenschlüsse und Handelsnetze weit über isolierte, magisch-orientierte Sozialformationen hinausragten. Entsprechend geht man in den Entwicklungsstufenmodellen davon aus, dass es einen
Übergang von magischen (animistischen) zu mythischen (polytheistischen) Stammesgesellschaften gegeben hat, wobei sich in letzteren das Subjekt auch stärker von Gemeinschaft und Umwelt
differenziert. Das ist vor allem deshalb ein bestechendes Konzept, weil in just diesem Moment der Geschichte Machtgötter in Erscheinung treten: Diese Gottheiten verorten sich in ihrer Welt, sie
nehmen signifikante Rollen als scharf konturierte Identitäten ein. Unübersehbar tritt hier ein neues Prinzip in der Geschichte auf – gewissermaßen wird nun auch das Göttliche zum Subjekt.
Die erstmalige Ausdifferenzierung des Subjekts vom Komplex Gemeinschaft/Umwelt kann erklären, weshalb die Welt der Geister von einer Welt sich streitender Gottheiten abgelöst wird; warum Krieg
und Diplomatie, Selbstbehauptung und individuelles Geschick zu mythologischen Schlüsselthemen werden.
Doch nicht alles ändert sich: Der Stamm ist mit seinem Kosmos immer noch verschmolzen. Zwar steht nun ein eigenständigeres Subjekt Stamm und Kosmos gegenüber, aber zwischen Stamm und Kosmos wird
kein trennscharfer Unterschied gemacht. Natürlich zog ein Germane territoriale Grenzen zwischen Stammesgebiet und Umwelt, aber beides war eben in einer mythischen Kosmologie vereint. Es geht um
das Konzept von der „Welt an sich“, wie wir es meinen, wenn etwa von „dem Universum“ oder „der Natur“ die Rede ist – um eine moderne, objektivierte Denkkategorie. Diese Differenzierung gab es
nicht.
Gerade aus diesem Grund wird die Welt der Götter und Stämme anhand von Verwandtschaftsverhältnissen strukturiert:
„In solchen Gesellschaften wird die kollektive Identität dadurch gesichert, daß die Individuen ihre Abstammung auf die Figur eines gemeinsamen Ahnen zurückführen
und sich damit, im Rahmen ihres mythischen Weltbildes, eines gemeinsamen kosmologischen Ursprung vergewissern. Umgekehrt kommt die Personidentität des Einzelnen über Identifikation mit einem
Stammesverband, der seinerseits als Teil der in Interaktionskategorien gedeuteten Natur wahrgenommen wird, zustande. Da die soziale von der natürlichen Realität noch nicht eindeutig unterschieden
wird, verschwimmen die Grenzen der sozialen Welt mit der Welt überhaupt. Ohne klar definierte Grenzen des sozialen Systems gibt es keine im strikten Sinne natürliche oder soziale Umgebung;
Kontakte mit fremden Stämmen werden nach den bekannten Verwandtschaftszusammenhängen interpretiert.“
Habermas, S. 212
Ich erlebe als Mitglied eines mythologischen Stammes andere Stämme als mythisch mit mir verwandt. Das aber ist der diamantscharfe Unterschied: Es wird erlebt. Wir reden von einer „Wahrnehmung des Sozialen“ die mit der „Wahrnehmung der Umwelt“ identisch ist. Wir können uns da nicht einfach reindenken, weil eine Wahrnehmung kein Gedanke ist. Unser Subjekt hat sich im Laufe der Zeit noch viel drastischer verändert. Unsere soziale Lebenswelt hat sich gespalten und den uns umgebenden Kosmos objektifiziert.
Quellen
[2] Vgl. Beck, Don E. / Cowan, Christoph C.: Spiral Dynamics – Leadership, Werte und Wandel: Eine Landkarte für Business und Gesellschaft im 21. Jahrhundert. 7.
Auflage, Bielefeld 2017.
Baum: Baum, Markus: Zu einer Kritischen Gesellschaftstheorie der Kommunikation. Erfahrungsarmut und der Ausschluss von Ästhetik im Werke Habermas’.
Wiesbaden 2018.
Habermas: Habermas, Jürgen: Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, S. 26; zitiert nach: Wilber, Ken: Eros, Logos, Kosmos. Eine
Jahrtausend-Vision. 6. Auflage, Frankfurt am Main 2016.
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Ramgar (Donnerstag, 06 September 2018 14:36)
Ein interessanter Ansatz, freue mich auf die nächsten Teile. Wobei auch zu bedenken ist, dass der Herr Habermas (in weiten Kreisen auch als "Laberfras" bekannt) so genau auch nicht wissen kann, wie die Menschen damals gefühlt und wahrgenommen haben - er war nämlich auch nicht dabei.
Eichenstamm (Donnerstag, 06 September 2018 16:17)
Ich stimme dir mal dahingehend zu (allerdings von meinem eher laienhaften Standpunkt aus, was diese Materie angeht und ohne Habermas' Vorgehensweise zu kennen), dass letztendlich keiner wirklich wissen kann, was die damals gedacht und empfunden haben.
Was ich, denke ich, festhalten kann, ist, dass die Menschen damals eine andere Wahrnehmung hatten als wir es heutzutage haben.