Von Askatasuna
Die germanische Gottheit und der moderne Mensch
Teil 2
Eine Antwort auf die Frage, wie sich Entfremdung therapieren lässt, hat der Soziologie-Professor Hartmut Rosa vor zwei Jahren in seinem bemerkenswerten Werk „Resonanz“ vorgestellt. [1] Resonanz
ist demnach ein Harmoniezustand: Wie eine Stimmgabel zu schwingen beginnt, wenn eine andere in ihrer Nähe angeschlagen wird, so kann auch das Subjekt gemeinsam im Einklang mit der Welt zu
schwingen beginnen, der es gegenübersteht. Der Anblick eines Sonnenuntergangs über dem offenen Meer kann so eine Resonanzerfahrung sein – aber auch das tiefe Gespräch mit einem guten Freund, bei
dem jeder mit eigener Stimme spricht bis die Unterhaltung eine erfüllende Eigendynamik zu entwickeln beginnt. Erfassen kann diese Dynamik selbst Massen auf einem Konzert; ganz generell wird Musik
von den meisten Menschen als Resonanzerfahrung erlebt. Wir alle kennen diese Momente und ihre ungreifbare Qualität: Die Welt selbst fühlt sich dort „wichtig“ an. Wenn wir uns zurückerinnern,
welche Lebensmomente wirklich bedeutsam für uns waren, finden wir zumeist solche, in denen die ganze Welt zu uns zu spricht: Momente außeralltäglicher Intensität, die sich zumeist um besondere
Menschen, Orte und biografische Wenden drehen, in denen das Leben mehr ein Wesen, als bloß ein Prozess, ist.
Rosa gliedert drei Resonanzachsen in der Welt: Als horizontale Achse versteht er Resonanzverhältnisse zwischen Menschen (oder Menschen und
Tieren). Unter diagonaler Resonanz schließt Rosa all jene Erfahrungsmomente ein, in denen ein Subjekt mit einem Gegenstand – sei es auf der
Arbeit, in der Kunst, im Sport usw. – zu schwingen beginnt. Dazu gehört auch der von Mihály Csíkszentmihályi geprägte Begriff „Flow“,
der sich einstellt, wenn wir eine Tätigkeit ausüben, bei der wir uns selbst vergessen und in der wir mit dem Objekt unserer Aufmerksamkeit eins werden. [2] Als vertikale Resonanzachse schließlich fasst Rosa Erfahrungen zusammen, zu denen uns Spiritualität verhelfen kann:
„Etwas ist da, etwas ist gegenwärtig. Das ist, so habe ich mit Maurice Merleau-Ponty zu zeigen versucht, die Grundform aller Weltbeziehung. Es ist die Urform
aller Wahrnehmung und allen Bewusstseins, aus der sich Subjekt und Objekt, Menschen, Dinge und Handlungen erst herausdifferenzieren; es ist die Urform des Daseins. Religion kann dann verstanden
werden als die in Riten und Praktiken, in Liedern und Erzählungen, zum Teil auch in Bauwerken und Kunstwerken erfahrbar gemachte Idee, dass dieses Etwas ein Antwortendes, ein Entgegenkommendes –
und ein Verstehendes ist. Gott ist dann im Grunde die Vorstellung einer antwortenden Welt. […] Religion wird in dieser Perspektive tatsächlich zur Beziehung (lateinisch: religare, rückbinden),
und zwar zu einer spezifischen Form der Beziehung, welche in den Kategorien der Liebe und des Sinns die Gewähr dafür zu geben verspricht, dass die Ur- und Grundform des Daseins eine Resonanz- und
keine Entfremdungsbeziehung ist.“
Rosa, S. 435
Resonanz ist die als Tiefe und Fülle erlebte Verbindung zu Menschen und anderen Tieren, Orten und Gegenständen, Göttern und Welten. Die durch die Aufklärung beschleunigte Entfremdung treibt
überall dort Keile zwischen Geist und Natur, Körper und Verstand, wo es später an Resonanzmomenten fehlt. Deshalb halte ich das Resonanzkonzept für wesentlich: Es zeigt uns, dass es auf die
Beziehungsfähigkeit der Subjekte und Gruppen ankommt. Resonanz ist nur dann möglich, wenn das Subjekt bei sich bleibt, seine Eigenfrequenz also behält, dabei aber zugleich offen für die Welt
(oder das andere Subjekt, die Gruppe, die Gottheit) ist. Wir müssen mit eigener Stimme zu etwas sprechen, dessen Stimme aber auch offen zuhören kann. Interessanterweise gilt es die eigene
Subjektivität zu wahren, statt sie zu überwinden, damit eine resonante Verbindung entstehen kann.
Nun ist ein Merkmal der Resonanz, dass sie sich nicht kontrollieren lässt: Sie entsteht und vergeht spontan, folgt keiner festen Regel, sondern wird nur durch bestimmte Vorbedingungen ermöglicht
oder wahrscheinlicher. Deutlich hingegen ist, dass kollektive Resonanzerfahrungen in der Industriegesellschaft der Spätmoderne oft nur noch als Oasen zu finden sind: Im Kino, auf dem Konzert, im
Stadion. Genau deshalb strömen Menschen dort immer wieder hin. Es ist also nicht möglich eine Resonanzerfahrung zu erzwingen, aber Resonanzoasen sind
aufbaubar. Das löst ein gewichtiges Problem für uns, nämlich die Frage, wie ein Kult konzeptualisiert werden kann, wenn doch der ausübende Mensch nicht mehr indifferent verwoben
mit seinem Stamm und Mythos ist.
Wir erinnern uns: Indifferenz bedeutet, dass sich die Subjekt-, Sozial- und Weltkategorien, wie wir sie heute kennen, noch nicht trennscharf gegenüberstehen. Veränderungen im Außen spiegeln sich
deshalb stärker im subjektiven Erleben wieder. Erscheinungen in der Welt „da draußen“ sind enger mit dem eigenen Gefühl vernetzt, weil die Subjekt-Objekt-Trennung nicht voll vollzogen ist. Das
gilt sowohl für Kinder im präoperationalen Stadium (Piaget), als auch für prämoderne Gesellschaften (Habermas). Dort ist der Resonanzbegriff dann auch nicht anwendbar, weil es gar nicht zwei
(oder mehr) abgrenzbare Seinsbereiche gibt, die zueinander in Resonanz zu treten vermögen, sondern nur den einen, in dem der Subjektbildungsprozess noch im Entstehen oder beinahe abgeschlossen
ist. Die Menschen waren durch ihre Mythen, ihre Stämme und Kulte mit ihren Göttern vereint. Sie nahmen ihren Kosmos als den einen mythischen Kosmos wahr und haben selbst andere, fremde Stämme in
diese Kosmologie integriert – einfach weil es gar nicht anders möglich war.
Uns hingegen steht eine ungleich komplexere und differenziertere Welt gegenüber, in der wir uns nicht nur vom dunklen, expandierenden Universum, sondern auch von unserer Gesellschaft, unserem
sozialen Umfeld und sogar uns selbst entfremden können. Wir fürchten keine ausfallenden Ernten, weil unsere differenzierten Industrienationen durch geopolitische Aushandlungsstrategien zu den
widerstandsfähigsten Versorgern der Geschichte gehören. Es ist sehr viel wahrscheinlicher, dass wir uns allesamt selbst umbringen, als dass auch nur einer von uns verhungern wird.
Unsere Krisen sind also andere: In regelmäßigen Abständen werden Mitmenschen in unserem Umfeld instabil, weil sie Schwierigkeiten damit haben, sich selber zu verorten, zu bewältigen und in ein
überkomplexes System zu integrieren. Immer wieder wackeln Finanzmärkte und Demokratien, und wir reden heute täglich davon, dass die Art, wie unsere Spezies handelt und wirtschaftet, ihr Überleben
auf dem gesamten Planeten riskiert. Wir laufen durch Städte, in denen wir kaum ein Gesicht wiedererkennen; wissen nicht, wer unsere Kleidung herstellt, wer unser Essen produziert, welche
Individuen an all den Handelsketten beteiligt sind. Unser soziales Umfeld, unser Beruf, unser Wohnraum, ja unsere gesamte Lebensphilosophie – all das sind individuell getroffene Entscheidungen.
Selbst wenn wir sie verweigern, bleiben wir verantwortlich dafür. Unsere Herausforderung ist heute, uns in diesem Chaos zurechtzufinden und zumindest gelegentlich mit unseren Mitmenschen, unserem
System und unserem Kosmos verbunden zu sein.
Diese Verbindung ist eine strukturell andere, weil alles und jeder mit eigener Stimme spricht – erst einmal also getrennt und verschieden ist. Wir können das nicht umkehren und dürfen es nicht
ausblenden, sondern müssen zu einem Lebensstil, einer Gemeinschaft
und einer Mystik finden, die trotzdem zur allmählichen Kultbildung um germanische Gottheiten führt.*
Entfremdung zu reduzieren und Komplexität zu ertragen ist dabei essentieller als jemals zuvor, deshalb geht es vor allem um die Schaffung der drei von Rosa skizzierten Resonanzachsen: An einem spezifischen Ort zu einer spezifischen Zeit müssen die Ásatrúar einander erkennen und entbrennen können; sie müssen zu ihren Kultobjekten – dazu zählen auch Kleidungsstücke und Accessoires – eine tief empfundene Bindung spüren; und nicht zuletzt müssen Musik, Sprache und Choreografie zu einer Atmosphäre führen, die zur Anrufung einer im Grunde okkulten Gottheit passt. Ein solcher Ritus müsste zwangsläufig bedrohlich („vertikal“), ekstatisch („horizontal“) und magisch („diagonal“) sein.
* Sollte die Bündnisbildung voranschreiten, ist anzunehmen, dass dies im Rahmen von Mehrfachmitgliedschaften zur Bildung weiterer Kulte führt, die sich jeweils um
einzelne Gottheiten scharen. Das Glaubensverhältnis zwischen mystischer Gottheit und modernem Mensch zeichnet sich eben dadurch aus, dass die Gottheit durch die alten Mythen ebenso offenbart wie
verschlüsselt wird. Die Ásatrúar sind deshalb darauf angewiesen, sich den mystischen Kontakt Gottheit für Gottheit neu zu erschließen, was zu einer Art
Kollektiverfahrung und dem Wiedereinsetzen der Mythenbildung führt: Aus den direkten Erfahrungen der Ásatrúar kristallisieren sich dann vom Kompass geleitete neomythische Narrative heraus, die
eng an die jeweiligen Kulte gebunden sind.
Jede dieser Achsen verlangt Arbeit, die zuerst in eine fundierte Theorie investiert werden muss. Es ist nicht so, dass ein solcher Ritus einfach umsetzbar wäre, nachdem man sich auf ihn geeinigt hat: Wir haben gar keine Ahnung, wie man etwa die horizontale Ekstase realisiert, ohne dem Einzelnen einen Ablauf aufzuzwingen, durch den er sich noch entfremdeter als vorher fühlt. Es verlangt komplexe Sozialstrukturen ein solches Projekt umzusetzen, wenn es nicht schon nach den ersten Versuchen scheitern soll. Und obwohl ich „den Kompass“ – die Mythen und Quellen – zurückgewiesen habe, ist ohne seine Hilfe eine Ästhetisierung und Akademisierung der Ásatrú undenkbar: Die Bildung neuer Bünde schließt die Integration des Germanen und mythischen Gottes ein. Wir – der moderne Mensch und die mystische Gottheit – lösen unser altes Verhältnis schließlich nicht ab, sondern schließen es ein. Auf die Differenzierung zur Moderne folgt ein integrativer Klärungsprozess.
Quellen
[1] Vgl. Rosa, Hartmut: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin 2016.
[2] Vgl. Csíkszentmihályi, Mihaly: Flow: Das Geheimnis des Glücks. 18. Auflage, Stutt- gart 2015.
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