Von Askatasuna
Die germanische Gottheit und der moderne Mensch
Teil 1
Im ersten Teil dieser Reihe (Ein unüberwindbarer Unterschied) habe ich dargelegt, wie sich das Verhältnis
des modernen Menschen zu sich, seiner Gesellschaft und deren Umwelt derart verändert hat, dass ihn vor allem sein psychosozialer Weltbezug von der Weltauffassung der Germanen trennt. Verloren sind nicht bloß die Überlieferungen ihrer Kulte und Kultur, überwunden ist auch die menschliche Daseinsform, die diese
erschaffen hat. Weil der Mythos des Germanen den Sinnzusammenhang seines Stammes stiftete, Stamm und Sinnzusammenhang aber untergegangen sind, glaube ich nicht, dass sich derselbe Mythos nach
tausend Jahren Winterschlaf einfach wieder nutzen lässt.
Das hat Konsequenzen für uns Ásatrúar: Wer sich in mittelalterliche Gewänder wirft, mit der Edda unter dem einen und seinen Fackeln unter dem anderen Arm zum vereinsinternen Julfest rennt, der
imitiert einen Kult, der sich nicht imitieren lässt. Die ständige Fixierung aufs historische Vorbild (die in unserer Szene ein omnipräsenter Wahnzustand ist) blockiert jede rituelle Kraft, weil
sie dem Gotteskontakt permanent die historische Detailverliebtheit beigesellt. Wir opfern den mystischen Kern des Ritus dem Anhaften an eine halbverstandene „Tradition“ (lat. tradere =
„hinüber-geben“), die uns niemals direkt übergeben wurde – einer Tradition also, die vielleicht gar keine ist.
Ich frage an dieser Stelle noch einmal: Sind wir Ásatrúar oder Nostalgiker? Die rekonstruktionistischen und folkloristischen Versuche einer kulturellen Wiederholung des Germanentums riskieren die
spirituellen Ziele der Ásatrú: die Wiederbelebung eines Götterkults, der den germanischen Polytheismus in der europäischen Spätmoderne als spirituelle Antwort auf das Weltenrätsel
konzipiert.
So häretisch es klingt: Weder Quellen noch Mythen können das Fundament eines kraftvollen Ásatrú-Kultes sein. Ein tragfähiger Kult um
germanische Gottheiten im dritten Jahrtausend ist nur dann denkbar, wenn das Kollektiv, das ihn aufbaut, zweifelsfrei festen Boden unter den Fußsohlen hat. Und das Einzige, was diesen Boden
bieten kann, was überhaupt noch übrig ist, nachdem sich der Germane zum Europäer und der Stamm zum Industriestaat entwickelt hat, das ist das Glaubensverhältnis zwischen Gottheit und
Mensch.
Dieses Verhältnis muss sich verändert haben, aber es ist eben immer noch da: Wir bauen nach einem ganzen Jahrtausend stillschweigender Erinnerung wieder Kontakt zu germanischen Gottheiten auf.
Niemand weiß wirklich, wie das auszusehen hat. Aber eint die Ásatrúar nicht eben dieses Pionierprojekt? Jeder Einzelne von uns wird in die Pflicht genommen, ein eigenes Vertrauensverhältnis zu
diesen Göttern herzustellen; keine Propheten und keine heiligen Bücher leiten uns den Weg. Wir haben nur Mythen, von denen es vermessen wäre zu behaupten, wir würden sie ganz begreifen, und wir
verfügen über das Wissen der Geschichtswissenschaft.
Mehr als ein Kompass aber kann das nicht sein, denn wir begegnen hier Kräften, mit denen sich seit dreißig Generationen niemand mehr beschäftigt hat. Wir haben gar keine Ahnung, was genau
passieren wird; ob uns dieser Ritus und jene Rune nun heilen oder töten werden, das erfahren wir erst hinterher. Jede germanische Gottheit wird von den Ásatrúar neu entdeckt.
Sollte unser kollektives Ziel dann nicht zuerst diese Entdeckung dieses neuen Glaubens sein? Aus dem einst indifferenten Verhältnis zwischen Gottheit, Stamm und Mensch, das nach und nach
in einer immer komplexeren Welt aufgegangen ist, kann der spätmoderne Individualist einer Gottheit gegenüberstehen, die von einer mythischen in ein mystische Erfahrungsdimension aufgestiegen
ist.
Die Annahme, dass auch die germanische Gottheit sich metaphysisch verändert hat, wird wohl vor allem der Alten Sitte ein Dorn im Auge sein. Alles andere aber impliziert ein statisches Gottesbild,
das unserem Kompass widerspricht: Weisen Quellen und Mythen nicht vielmehr daraufhin, dass sich eine Gottheit stets zusammen mit ihrem Stamm und Göttergeschlecht entwickelt hat? Ein
stabiler Kult muss sich seinem Zeitgeist stellen und seinen Glauben konstruktiv, differenziert und souverän gegenüber Wissenschaft und Kultur des 21. Jahrhunderts positionieren – eine
Herausforderung, die oft vernachlässigt worden ist.
Das Kernelement eines Ásatrú-Kultes sollte daher die Selbstvergewisserung der polytheistischen Wirklichkeit im Ritus sein; einem Ritus, der die Bildung neuer Bündnisse zwischen Gottheiten und
Ásatrúar ins Zentrum stellt – der sich der Bündnisbildung selbst verschreibt.
Wieso das jahreszeitliche Ritual, wo wir doch mehrheitlich keine Bauern mehr sind, denen es um den Ertrag ihrer Sippe geht? Das ist nicht unser Themenkomplex; dazu wird es nur, wenn uns die
Imitation wichtiger als die eigene Erfahrung ist. Es ergibt aus rituellen Gründen Sinn, Riten an entsprechenden Tagen – während natürlicher Wenden – abzuhalten, aber der ursprüngliche Ritus
behandelt doch kein modernes Lebensthema mehr. Ich meine das ernst: Verarschen wir uns nicht selbst? Wir machen das „irgendwie aus Tradition“, mehr steckt kaum dahinter – jedenfalls kein Stamm,
kein gemeinsamer Mythos und keine indifferente Weltwahrnehmung mehr. Wie vielen, die an solch einem Ritual teilnehmen, geht es wohl wirklich um ihre Ernte? Und wie vielen um den reinen
Gotteskontakt? Wir sollten ehrlich zu der Gottheit sein, die wir rufen.
Sobald wir souverän und integer sind, schüren wir ein Feuer, das mystisch ist. Sich einer Gottheit zu stellen, die für uns unberechenbar bleibt, kann dann keine Gewohnheit werden, kann niemals
eine sein. Stattdessen inszeniert sich ein mystischer Ritus als Extremsituation, in der durch Ästhetik der Einzelne, mit Wahrhaftigkeit die Gemeinschaft und durch Aufrichtigkeit die Gottheit
erfasst werden können. Diese Erfahrung muss fundamental anders als unsere Alltagserfahrung sein – ein Hinaustreten in eine intensivere Welt. Deshalb gilt es zunächst zu klären, was „Intensität“
in unserem Fall bedeutet und ob sie gezielt erzeugt werden kann. Das werde ich, wie üblich, sozialphilosophisch tun.
Seit jeher denken Soziologen über das Phänomen der Entfremdung nach: Je fortgeschrittener und differenzierter eine Gesellschaft wird, desto stärker scheint es zur Dissonanz zwischen dem
Individuum und seiner Welt zu kommen. Bekannt ist das Konzept bei Karl Marx (1818-1883): Der Einzelne entfremdet sich im Kapitalismus von dem Produkt, das er herstellt, und dem
Produktionsprozess, was nach und nach zu einer Entfremdung vom Menschsein überhaupt führt. Schon einer der Väter der Soziologie, Ferdinand Tönnies (1855-1936), fokussierte daraufhin die wachsende
Entfremdung während des Übergangs von der Gemeinschafts- zur Gesellschaftsformation. Émile Durkheim (1858-1917) stellt den Verlust gesellschaftlicher Werte als Entfremdungsursache fest. Theodor
W. Adorno (1903-1969) und Max Horkheimer (1895-1973) analysieren – im Kontext der Kritischen Theorie – Entfremdung als inhärentes Phänomen von Gesellschaft und Kultur, das sich längst in die
Privatsphäre des Einzelnen, seine Freizeit und Selbstbeschäftigung ausgebreitet hat.
Ungeklärt blieb bisher, was denn das Gegenteil der Entfremdung sei. Wenn Menschen im Zivilisationsprozess eine bestimmte Qualität verlieren, dann ist nicht nur deren Verlust entscheidend, sondern
auch das Wesen dieser Qualität. Wie lässt sich, anders gesagt, Entfremdung therapieren?
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