Schrift ermöglicht es, Gedanken und Gesagtes in einer Form festzuhalten, die die Zeit überdauert und vom „Sender” losgelöst an jedem erdenklichen Ort rezipiert werden kann. Für Menschen oder ein
Volk, das vor allem mündlich geprägt war, muss diese Möglichkeit magisch gewirkt haben: zeitlich und örtlich Begrenztes wird unbegrenzt. Vielleicht ist das einer der Gründe dafür, warum in vielen
Kulturen Götter als Urheber der Schrift gelten, wie etwa Odin in der nordischen Mythologie (wenngleich er die Schrift nicht erfunden, sondern lediglich empfangen hat).
Das Alter der Schrift allgemein kann nicht genau bestimmt werden und verschwimmt in nebulöser Vorzeit: Man weiß also nicht, wann die erste Schrift erfunden wurde. Von einigen Schriften lässt sich
feststellen, dass sie entlehnt wurden, doch die Herkunft dieser entlehnten Schrift wiederum wird häufig ab einem gewissen Grad undeutlich und unterliegt Mutmaßungen. Dies gilt auch für die
Schrift der germanischen Völker, für die Runen, bei denen von einer Entlehnung auszugehen ist.
Wo entwickelt sich Schrift?
Bei der Frage nach Hochkulturen ist die Schrift eines der Kriterien: Schriftlose Kulturen erachtet man nicht als Hochkulturen, und das obwohl weder das Volk von Mykene noch von Troja eine Schrift
besaßen. Noch heute ist Schriftlichkeit durchwegs positiv konnotiert; oder anders gesagt wird fehlende Schriftlichkeit als negativ, rückständig und änderungswürdig erachtet. Aus diesem Grund wird
Völkern ohne Schrift oft auch eine niedere Kulturstufe unterstellt (vgl. Arntz).
Allerdings muss der „Stand der Zivilisation von der Kulturhöhe eines Volkes” unterschieden werden (Arntz) – und mit Zivilisation ist die Schriftlichkeit einer Kultur gemeint: Eine weniger
zivilisierte Gesellschaft (also eine, die keine Schrift benötigt und daher auch keine verwendet) ist darum nicht ärmer an Kultur.
„Es ist nicht die Schrift, welche Zivilisationen und neue Formen von Gesellschaften schafft, sondern im Gegenteil ist es die Gesellschaft, welche die Macht hat,
eine neu Form der Datensammlung [die Schrift] zu kreieren.”
Albertina Gaur, La scrittura, S. 16 (übersetzt von Eichenstamm)
„Die Stellung der Schrift in der Gegenwart beruht gar nicht zuerst auf kulturellen Bedürfnissen, sondern auf praktischen Notwendigkeiten”, schreibt auch Arntz und betont, dass Gebrauchsschrift dort auftritt, wo Völker Handel treiben oder große Staaten verwalten müssen. Albertine Gaur stellt heraus, dass beispielsweise Bilderschriften insbesondere in Gesellschaften mit einer präkapitalistischen Wirtschaftsform auftreten.
„Welchen Schrifttyp eine Gesellschaft entwickelt oder auswählt, hängt im Großteil, wenn nicht sogar vollkommen von der Art der Gesellschaft ab, in der sie
auftritt. […] Die schiere Verfügbarkeit einer Schrift reicht nicht aus, um eine Gesellschaft zu verändern: Wenn die Schrift für die Existenz und das Überleben einer gewissen Gesellschaft
keinen Einfluss hätte, würde diese, träte sie in Kontakt mit der Schrift, sie vollständig verwerfen oder nur in Teilen akzeptieren, also vielleicht nur im Dienste einer kleinen und häufig, wenn
auch nicht immer, privilegierten Kategorie.”
Albertina Gaur, La scrittura, S. 15 (übersetzt von Eichenstamm)
Schrift mag praktisch sein und ist insbesondere heutzutage kaum noch wegzudenken. Nichtsdestotrotz ist ein Leben ohne Schrift sehr gut möglich, denn ihr eigentlicher Zweck liegt darin, Informationen zu erhalten und weiterzugeben. Dafür ist sie allerdings nicht das einzige verfügbare Medium eines Menschen:
„Lange vor ihrer [der Schrift] Geburt, und in vielen Fällen zur gleichen Zeit, diente das menschliche Gedächtnis demselben Ziel. Bei dem Großteil der Fälle
handelte es sich um das Gedächtnis einer Gruppe, die dafür extra ausgebildet und ausgewählt wurde und welcher die Gesellschaft diese Aufgabe anvertraute.”
Albertina
Gaur, La scrittura, S. 14 (übersetzt von Eichenstamm)
Wie entwickelt sich Schrift?
Grundsätzlich kann zwischen einer Gebrauchsschrift und einer Kultschrift unterschieden werden. Die Gebrauchsschrift wird für die eigene und kollektive Erinnerung und für Mitteilungen an andere verwendet, während die Kultschrift spirituell agieren soll, also als Botschaft an das Göttliche oder Übernatürliche dient.
„Gleich anderen kultischen Mitteln soll es Fruchtbarkeit oder Sieg erflehen, Tote ans Grab bannen, feindlichem Zauber wehren, im Losorakel die Zukunft enthüllen
und dergleichen mehr. Es soll der göttlichen Macht, die zaubern kann, wiederum mit Zauber entgegentreten.”
Helmut Arntz, Handbuch der Runenkunde, S. 4
Natürlich sind diese beiden Schrifttypen (Gebrauchs- oder Kultschrift) nicht immer klar voneinander zu unterscheiden bzw. können auch gleichzeitig auftreten.
Gebrauchsschrift
Bei Gebrauchsschriften werden die Zeichen anhand von lautlichen Gemeinsamkeiten ausgewählt. Ein gutes Beispiel sind hierfür die ägyptischen Hieroglyphen: Das ägyptische Wort für Käfer wird etwa
aus der Lautgruppe h-p-r gebildet – ebenso wie das Wort „werden”. Aus diesem Grund wird „werden” ebenfalls mit einem Käfer dargestellt.
Bei Schriften dieses Typus werden häufig die Vokale weggelassen, da sie als nicht so fundamental für das Verständnis wahrgenommen werden. Das kann selbst im Deutschen beobachtet werden, wo durch
Umlaute in Stammreihen vollkommen unterschiedliche Vokale doch als zum gleichen Wort gehörig erkannt werden (brechen, brach, gebrochen, Bruch, Brüche usw.).
Wenn man nun bei Wörtern, die aus nur einem Konsonanten und einem Vokal bestehen, letzteren weglässt, ist eigentlich schon der Schritt zur Lautschrift gemacht. Besieht man sich stellvertretend deutsche Wörter anstelle von Ägyptischen, so hätte man beispielsweise (übernommen von Arntz, dieser zitiert H. Bauer): See (= se = s), Vieh (= fi = f), Kuh (= ku = k). Anstelle von Zeichen, die mehrere Laute darstellen, haben wir Zeichen, die nur für einen einzigen Laut stehen: also Buchstaben. Vervollstänigt man diese Zeichenreihe, indem man sämtliche in der Sprache vorkommenden Laute mit einem Zeichen darstellt, hat man am Ende eine Buchstabenschrift, die imstande ist, jedes Wort der Sprache festzuhalten.
Kultschrift
Anders als bei der Gebrauchsschrift dienen bei einer Kultschrift nicht Entsprechungen auf der Lautebene, sondern inhaltliche Bezüge zum Zeichen. Man unterscheidet zwischen Gegenstand, Bild und Sinnbild. Beim Gegenstand handelt es sich um das Objekt, das tatsächlich existiert, beispielsweise um einen Hammer. Das Bild ist seine Entsprechung als Zeichnung auf dem Papier (oder jedem anderen Schreibmaterial). Setzt man diesen Hammer in Verbindung mit etwas, das als solches nicht fassbar ist, etwa mit dem Gott Thor, und zeichnet künftig den Hammer, wenn man nicht den Hammer, sondern Thor meint, so hat sich das Bild zum Sinnbild gewandelt. Verliert das Sinnbild nach und nach das Bewusstsein im Schreiber, dass es sich um einen Hammer und darum um den Gott Thor handelt, so wurde es zu einem Sinnzeichen: Zu einem Zeichen also, dessen eigentliche Verbindung zum Dargestellten nicht mehr klar ist.
„Sinnbilder entstehen also immer durch den Wunsch, etwas Unsichtbares, das deshalb im Bild nicht wiedergegeben werden kann, sichtbar zu machen. Die Wahl des
Sinnbildes wird somit bestimmt durch den Inhalt, während in der Gebrauchsschrift der Klang entscheidet.
[…]
Der Glaube, wir dürfen auch sagen: die religiöse Furcht, schützt ursprünglich Bilder und Zeichen vor profaner Anwendung. Es ist aber eine allgemein beobachtete Erscheinung, dass kultische
Begriffe verweltlicht werden, ‚indem etwa religiöse Kulthandlungen zu profanen Bräuchen und schließlich zum Spiel werden. Von dieser Bewegung ist natürlich auch das Sinnbild erfasst worden; d.h.
es trat aus der religiös-magischen Sphäre heraus und wurde zum Schmuck, Zierrat und Ornament’ – oder, wie wir oben sahen, zum Schriftzeichen einer Gebrauchsschrift.”
Helmut
Arntz, Handbuch der Runenkunde, S. 6
Ursprünglich kultisch gedachte Schriften können sich also zur Gebrauchsschrift entwickeln. Diese Schlussfolgerung ist insbesondere hinsichtlich dessen interessant, da man bei den Runen durchaus
eine Wandlung in der Verwendung feststellen kann: Während im Älteren Futhark die magisch-religiösen (oder zumindest rätselhaften) Inschriften deutlich überwiegen, wird es im Jüngeren Futhark
modern, längere Texte für irdische Zwecke, also Gebrauchszwecke, zu verfassen. Nicht nur dieser Aspekt deutet darauf hin, dass es sich bei den Runen anfangs um eine Kult-, nicht um eine
Gebrauchsschrift handelte.
Arntz hat die folgende Stufenreihe für das Besprochene vorgeschlagen:
- der Gegenstand selbst,
- das Bild des Gegenstandes, das diesen selbst meint,
- das Sinnbild, das „sinnbildlich” für einen anderen (unsichtbaren) Begriff steht
- das Sinnzeichen, also ein Sinnbild, dessen formale Herkunft dem Schreiber nicht mehr bewusst ist,
- das Merkzeichen, also ein Zeichen, das seines bildhaften Charakters entkleidet ist und mit keiner kultlischen Vorstellung mehr verbunden ist.
Entstehung einer Schrift
Es gibt drei verschiedene Möglichkeiten, wie ein Volk an seine Schrift kommt:
- Übernahme
- Inspiration
- Erfindung
Bei der Übernahme importiert ein Volk also eine fremde Schrift und passt sie an eigene Gepflogenheiten an. Dies bedeutet nicht unbedingt, dass die alte Schrift in ihren Zügen vollkommen kopiert
wird, die Isländer haben etwa, als sie die lateinische Schrift verwendeten, durchaus neue Buchstaben eingeführt bzw. aus anderen Ländern übernommen (æ, ø, ǫ, ð, þ) und andere gestrichen
(x).
Bei der Inspiration wird ein Volk durch andere Schriften angeregt, schafft aber grundsätzlich etwas Neues, während bei der Erfindung einer Schrift keinerlei fremde Anregungen und Entlehnungen
Impulse geben.
Für die Runen kann mit ziemlich großer Sicherheit festgehalten werden, dass sie keine Neuerfindung waren und sich die Einflüsse wohl auch stärker als schlichte Anregungen auswirkten: Man kann
also von einer Übernahme einer fremden Schrift ausgehen, welche an die eigene Sprache angepasst wurde.
Bedeutung einer Schrift für eine Gesellschaft
Wie bereits oben erwähnt, wird mit Schriftlichtkeit heute ausschließlich Positives konnotiert. Sie steht für einen höheren Grad an Kultur, auch wenn das eine mit dem anderen kaum zusammenhängt. Zumindest aber bewahrt sie altes Wissen. Klaus Düwel bringt diese allgemeine Ansicht auf den Punkt:
„Eine umwälzende Neuerung in einer auf Mündlichkeit beruhenden Kultur hat die Erfindung oder Aufnahme von Schrift bedeutet. Dem vergänglichen gesprochenen Wort
wird mit dem Aufschreiben Dauer verliehen. Schrift ermöglicht in eigener Weise Gedächtnis und Erinnerung (lat. memoria) über das Einzelwesen hinaus und wirkt damit traditionsstiftend und
-erhaltend.”
Klaus Düwel, Runenkunde, S. 1
Wie aber soll Schrift in einer mündlichen Gesellschaft traditionsstiftend wirken? Welche Traditionen sollen durch Schrift erhalten werden, wenn der Großteil der Gesellschaft des Lesens und
Schreibens gar nicht mächtig ist? Handelt es sich dabei nicht vielmehr um einen Schluss, der nur deshalb gezogen wird, weil man selbst in einer schriftlichen Gesellschaft lebt?
Heutzutage sind wir an das geschriebene Wort gebunden – und was nicht aufgeschrieben wird, verschwindet schon bald auf immer im Vergessen. Es ist allerdings erwiesen, dass mündliche Kulturen ein
weit besseres Gedächtnis haben und nicht-Aufgeschriebenes darum nicht ganz so schnell im Nirvana landet.
Traditionen sind naturgemäß dem Wandel der Zeit unterworfen, das heißt, sie verändern sich und passen sich dem Menschen an, auch wenn der Kern der Tradition bewahrt wird. Während dieser Vorgang
in mündlichen Gesellschaften natürlich abläuft, hinkt das Schriftliche bald der Entwicklung der Gesellschaft hinterher, bis die Schere weit aufklafft: So eine Situation ist heute im Christentum
zu beobachten, in dem das Wort der Bibel mit den modernen Lebensweisen kaum noch etwas gemein hat.
Dass Schrift also traditionsstiftend ist, sollte mit einem Fragezeichen versehen werden. Selbstverständlich muss man einräumen, dass ohne schriftliche Quellen unser Wissen über die vorchristliche
Zeit gegen Null tendieren würde, allerdings hat die Schrift in diesem Fall alte Erinnerungen bewahrt, die längst nicht mehr zu einer Tradition gehörten. Man kann also in den mittelalterlichen
Manuskripten schwerlich die Bewahrung einer Tradition erkennen, sondern vielmehr einen Erhalt von Geschichte und Erinnerungen. In einer (mündlichen) Gesellschaft, in der es keinen Kulturbruch
gibt, wie es in Europa im ersten Jahrtausend unserer Zeitrechnung der Fall war, ist eine Schrift nicht von nöten, um die Traditionen zu erhalten. Im Gegenteil ist Mündlichkeit für den Erhalt der
Kultur förderlicher. Während bei Mündlichkeit das Kollektiv im Vordergrund steht (einer spricht, der andere nimmt auf, dieser wird sprechen, ein dritter nimmt auf), wird bei der Schriftlichkeit
der Bezug gekappt: Einer schreibt den Text, der in Zukunft in immer derselben Form, und ohne gesellschaftlichen und historischen Wandlungen unterlegen zu sein, gelesen wird. Es findet keine
Kommunikation zwischen Sprecher und Zuhörer statt, eine tatsächliche Weiterentwicklung wird erschwert, das Voranschreiten der Kultur unterbunden.
Gleichzeitig – und das mag für uns moderne Menschen seltsam wirken – hat die mündliche Weitergabe den Effekt, dass der Inhalt nicht hinterfragt wird, was für eine Kultur, die sich selbst nicht
aufarbeiten möchte, durchaus erwünscht sein kann. Anders als beim Lesen wird das Gehörte nicht beleuchtet, sondern häufig schlicht auswendiggelernt. Dies kann positiv oder negativ bewertet
werden.
„Das Auswendiglernen hat den Nachteil, dass es nicht das kritische Denken anregt; und in Wahrheit wurde diese Herangehensweise immer bevorzugt: für die Poesie
(sei sie heilig, sei sie profan), für Erzählungen (legendarisch, episch, in der Mitte zwischen Realität und Immagination) oder auch für das esoterische Wissen, das für eine begrenzte Gruppe
bestimmt war und diese Grenzen nicht überschreiten sollte.”
Albertina Gaur, La scrittura, S. 14 (übersetzt von Eichenstamm)
Zumindest in der ersten Zeit waren Runen als Schrift alles andere als traditionsstiftend. Man schrieb Runen nicht, um Erinnerungen zu bewahren (das kam erst mit den großen Steinsetzungen der
Wikingerzeit auf), sondern für Widmungen und Weihungen. Auch die Länge der älteren Inschriften deutet nicht darauf hin, dass Wissen bewahrt werden wollte: Vielfach bestanden sie aus nur einem
Wort oder Namen.
Eine Frage, die man sich bei den einzelnen Runeninschriften außerdem stellen muss, ist, ob die Runeninschriften überhaupt gelesen werden sollten. Inschriften im Älteren Futhark, die auf die
Unterseite von Grabplatten oder auf die Innenseite von Fibeln geritzt wurden, sprechen dagegen (Düwel vermutet für letzteres
eher Platzgründe). Eine Schrift, die nicht gelesen werden sollte, kann aber kaum der Erinnerung gelten.
Doch auch später, während der Wikingerzeit und der Phase des Jüngeren Futhark, hatten die Runen niemals den Charakter einer Schrift, die alte Traditionen bewahren wollte. Trotz der Kenntnis des
Schreibens blieben die vorchristlichen Nordmänner bis zuletzt eine mündliche Gesellschaft.
Quellen
Arntz: Arntz, Helmut: Handbuch der Runenkunde. Edition Lempertz, Königswinter 2007 (1944).
Düwel: Düwel, Klaus: Runenkunde. Verlag J.B. Metzler, Stuttgart Weimar 2008.
Gaur: Gaur, Albertine: La scrittura. Un viaggio attraverso il mondo dei segni. Edizioni Dedalo srl, Bari 1992 (1984)
Krause: Krause, Arnulf: Runen. Marixverlag, Wiesbaden 2017.
Kommentar schreiben
Hans-Maria (Mittwoch, 04 September 2019 12:25)
super
Eichenstamm (Dienstag, 01 Oktober 2019 18:26)
Ich danke!
sandro (Donnerstag, 26 August 2021 13:20)
e huere guet sondro