Nahezu alle Anhänger der Alten Sitte haben eine Lieder-Edda bei sich im Bücherregal stehen, nicht alle von ihnen haben sie gelesen. Der Grund dafür ist naheliegend: Einerseits haben auch nicht
alle (guten) Christen ihre Bibel gelesen, andererseits gehört die Alte Sitte nicht zu den sogenannten „Buchreligionen”, weshalb eine Lektüre der Edda nochmals freiwilliger sein muss.
In der Tat, sehr viele Menschen beschäftigen sich nur oberflächlich mit den Texten und Überlieferungen ihres Glaubens oder den sekundären Werken von Forschern, egal ob Christ, Buddhist oder
Asentreuer. Vielfach wird als Argument hervorgebracht, dass die Wissenschaft den eigentlichen Kult zerfasere, dass sie alles rationalisiere und dass man sich lieber einen unbefangenen, freien
Umgang bewahren möchte. Die Götter offenbaren sich nicht, weil man alle Runensteine nennen kann, auf die ihr Name geritzt wurde, nein, es geht vielmehr um einen persönlichen Zugang, die
Fähigkeit, seinen Geist vom Irdischen zu lösen und mit den Göttern zu verbinden.
In dieser Hinsicht haben diese Menschen Recht und aus eigener Erfahrung kann ich bestätigen, dass die Zeiten, in denen man sich am intensivsten mit wissenschaftlicher Literatur zu seinen Göttern
befasst, alles andere als die spirituell reichsten sind. Vielmehr verliert man sich in Fakten und Haarspalterei und kurzfristig kommt sogar der Blick für das allumfassende Ganze abhanden, das
unseren Glauben eigentlich ausmacht.
Nichtsdestotrotz kann man sich vor der Wissenschaft nicht verstecken, denn sie ist unser einziger Weg. Nur durch sie können wir spirituelle Verbindungen überhaupt ziehen, etwa indem wir Odin mit
Raben und Wölfen in Beziehung setzen, Thor als den Schützer unserer Welt betrachten und den Vanengeschwistern Freyr und Freyja eine Fruchtbarkeitsrolle zuweisen.
Und hier ist das Problem: Während die meisten Kulte unserer Zeit auf eine konstante Tradition zurückgreifen können, die eben nicht durch Bücher, sondern durch mündliche Überlieferung und
Erziehung weitergegeben wird, findet sich bei der Alten Sitte ein Schnitt von knapp beziehungsweise über tausend Jahren (je
nachdem aus welchem Land man stammt). Mag das Christentum auch eine Buchreligion sein, es hat Jahrhunderte überdauert, in denen der allergrößte Teil der Menschen analphabetisch war. Die
christlichen Dogmen, Lehren und Mythen wurden erzählt und so am Leben gehalten. Ein heutiger Christ braucht die Bibel nicht zu lesen, auch wenn er es kann: Er wird die Botschaften seiner Religion
überall in seinem Umfeld finden.
Für uns Asentreue gilt das nicht. Wir können unser Wissen in den seltesten Fällen aus kultureller Überlieferung ziehen, und das gilt dann nur für einzelne Fragmente von Mythen, verschlüsseltes
Auftreten alter Gottheiten oder Bräuche, die sich über Jahrhunderte gewandelt haben und von christlichen Einflüssen durchzogen wurden. In den meisten Fällen schöpfen wir unser Wissen entweder aus
den Büchern von Forschern der letzten zweihundert Jahre, die keinerlei Interesse daran haben, einen lebendigen Glauben wieder auferstehen zu lassen. Es geht ihnen um Fakten und Beweise
(beziehungsweise im Falle der Autoren der Nationalromantik um eine Erschaffung einer ideologischen Grundlage), spirituelle Kleister zwischen diesen Tatsachen, die das Ganze verbinden würden, sind
uninteressant beziehungsweise nicht wissenschaftlich genug, um sie in Büchern aufzuschreiben.
Andernfalls, und das ist bei Weitem schlimmer, entnehmen wir die Informationen aus dem esoterischen Schund, der auf den völkischen Ideologien des letzten Jahrhunderts beruht, egal wie sehr sich
die Autoren auch davon distanzieren mögen. Sie haben sich das unerforschbare Spirituelle, das man in wissenschaftlichen Büchern nicht findet, zusammengereimt, mit verkaufsfördernden Schlagwörtern
versehen und auf den Markt geworfen — und dabei bereitwillig über Fakten der Forschung hinweggesehen.
Die heutigen Quellen eines modernen Asentreuen sind also entweder die vernunftbesessenen Werke, die bar jedes spirituellen Ansatzes sind, oder die esoterischen Massenproduktionen, deren einziges
Interesse das Orakeln zu sein scheint, das auf keinerlei historische Quelle zurückgreifen kann. Unnötig zu erwähnen, dass beide Sparten nicht als vollständige Grundlage für unseren Glauben dienen
können, im Falle der Esoterik noch nicht einmal im Ansatz.
In meinem Leben sind mir schon einige Asentreue begegnet, die einerseits die Eddas als „unwichtig” abgetan haben, da sie „von Christenhand geschrieben wurden und wir außerdem kein Dogma wie die
Bibel brauchen”. Im gleichen Atemzug käuten sie wieder, was sie in Büchern renommierter Wissenschaftler gelesen hatten ohne zu realisieren, dass diese Wissenschaftler ihr Wissen auch nicht aus
einer allein ihnen zugänglichen geheimen Quelle, sondern aus eben diesen Eddas schöpften (unter anderem). Sie hängen sich an die Mantelzipfel irgendwelcher Forschermeinungen, die sie in
irgendwelchen Zeitschriften irgendeines vergangenen Jahres gelesen haben und haben es verpasst, sich in den Primärquellen ein eigenes Bild zu machen. Dabei wird die Tatsache, dass jede Aufarbeitung der Quellen stets ein Schritt mehr zwischen Original und Hörerschaft ist, ignoriert; in Wahrheit werden wir dadurch ständig in
unserer Meinung manipuliert.
Wir, die wir uns den Glauben an die alten Götter auf die Fahne schreiben, wissen letztendlich weniger über sie, als Forscher, die mit kalter Rationalität an die Quellen herantreten. Wir ziehen
unsere Informationen nicht aus eben diesen Quellen (die uns zur Verfügung stehen!), sondern aus wiedergekäuten Nacherzählungen der Wissenschaftler und pompös aufgeschmücktem Schund von
profitgeilen Esoterikern.
Wir, die wir den Göttern opfern, haben dies nie von unseren Eltern gelernt und kopieren uns daher unsere Anleitungen arglos aus Büchern, die nachweislich Rituale nach christlichem Vorbild und
eigenem Gefallen geschustert haben.
Können wir uns da wirklich beklagen, wenn die Wissenschaft uns belächelt? Solange wir immer nur in ihren Spuren laufen, und
überall dort, wo es sich anbietet und nicht anbietet Gurus und Lebensberater, die angeblich irgendwelche godischen Ausbildungen genossen haben, um Antworten bitten, werden wir niemals ernst
genommen werden. Jeder, der Ahnung von der Materie hat, kann sehen, wie hilflos der moderne Asentreue in unbekanntem Gewässer strampelt und zusammenhanglos Schlagworte herausposaunt, die er
irgendwo gelesen hat: „Snorri war Christ!”, „Runenmagie!”, „Göttervater Odin!”
Daher lautet meine Antwort auf die Frage, ob sich ein moderner Asentreuer ausgiebig mit den Quellen beschäftigen muss: Ja.
Und er muss es leidenschaftlicher tun als jeder andere.
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Nachtsegler (Dienstag, 12 Februar 2019 20:52)
Ernst genommen werden - das ist mir zu passiv, zu stark auf ein Außen gerichtet. Ich möchte mich, meinen Glauben, meine Spiritualität und meine Gemeinschaft ernst nehmen. Das Innen geht voran.
Eichenstamm (Samstag, 02 März 2019 19:09)
Ah, das ist ein guter Gedanke.
Vielleicht ist das ein Punkt, den ich noch genauer betrachten müsste, denn ich finde schon, dass es da diesen entscheidenden Schritt gibt, wo ein Gläubiger auch nach außen hin eine ernstzunehmende Wirkung hat. Das ist mir insofern wichtig - immer wieder in Bezug auf die moderne Heidenszene - weil es aktuell so viele Asentreue gibt, die sich selbst sehr ernst nehmen, aber in meinen Augen denkbar unauthentisch sind. Und das nicht nur, weil ich einfach eine andere Weltsicht vertrete.
Thal (Samstag, 04 März 2023 18:43)
Irgendwie fehlt mir an der Stelle der Offenbarungscharakter, der fast jeder Religion innewohnt - auch der nordischen.
Ein Studium alter Quellen ist sicher lobenswert und interessant, führt aber spirituell ins Leere, wenn man nicht in irgendeiner Form berührt wird. Auch kann modernes Heidentum nicht in einem möglichst genauem Kopieren der Vergangenheit bestehen. Du sagst es selbst: ~1000 Jahre Schnitt. Denkst du ernsthaft die alten Götter haben sich in all der Zeit nicht verändert? Was sagen deine Quellen dazu, hat sich Odin oder Thyr über 1000 Jahre unverändert präsentiert?
Eichenstamm (Donnerstag, 09 März 2023 20:51)
Hallo Thal,
ich danke dir sehr für deinen Kommentar, denn nichts schätze ich mehr, als eine fremde Meinung, die hinterfragt und einen Gedanken auf eine neue Ebene heben kann.
Die Verantwortung, die Quellen zu kennen, liegt m.E. darin, die Basis zu kennen und sich nicht auf Meinungen anderer begründen zu müssen, deren Ursprung wir nicht kennen. Aber du hast insofern recht, dass mich die Edda-Lektüre schwerlich näher an die Götter heranführen wird. Mag sie noch so beeindruckend sein, ein Lehrbuch für den Kult ist sie ganz sicher nicht.
Die Frage, ob sich die Götter nicht verändert haben, würde ich verneinen. Ebenso wenig wie sich die Jahreszeiten in ihren Grundzügen verändert haben, der Fluss des Wassers oder die Art, wie Eichen wachsen, so denke ich nicht, dass sich die Götter nennenswert verändern - oder zumindest so langsam, dass 1000 Jahre keinen Unterschied machen. Für uns Menschen sind 1000 Jahre viel (und entsetzlich viel Zeit, um einen Planeten umzuwälzen), aber es gibt Lärchen, die vor 1000 Jahren aus dem Samen gesprossen sind und noch immer an derselben Stelle stehen. Ich denke nicht, dass sich eine Gottheit verändert, weil wir Menschen es tun.
Quellen habe ich dafür natürlich keine - das ist nur eine persönliche Einstellung.
Letztendlich kann ich deine Frage aber nicht beantworten, denn ich halte sie für ein Kernproblem der Asentreue: Was ist unser Kult? Wie schaffen wir es, uns spirituell ergreifen zu lassen? Wie kann das spirituelle Erfahren der Götter, von dem viele von uns berichten, die Schlucht überwinden, einen lebendigen Kult zu erschaffen?
Jutta (Freitag, 23 August 2024 17:51)
Mir gefällt Deine Verachtung für Asengläubige nicht, die ihren bzw. unseren Glauben anders handhaben als Du.
Es gibt grundsätzlich 2 Herangehensweisen im Asatru. Man versucht den Glauben so zu praktizieren, wie es früher gemacht wurde, oder man orientiert sich an den Göttern. Beide Herangehensweisen sind legitim. Ich lese aus Deinem Statement heraus, dass Du Deinen bzw. unseren Glauben am liebsten so wie unsere Ahnen praktizieren möchtest. Das kann man machen. Dann macht es Sinn die historischen Quellen gut zu studieren.
Man kann sich aber auch an den Göttern orientieren. Um mit den Göttern in Kontakt zu treten braucht es nicht die gleichen Rituale wie vor der Christianisierung, sondern Vorgehensweisen, die funktionieren. Wer Wert darauf legt, unseren Glauben möglichst auf die gleiche Weise zu praktizieren wie unsere Vorfahren, dem steht das frei. Es ist aber auch legitim sich anderer Vorgehensweisen zu bedienen, die zum gleichen Ziel führen.
Ist man weniger an historisch genauen Praktiken interessiert, ist das Quellenstudium weniger wichtig. Die Quellen sind dann eher Einstiegshilfe in den Glauben und Inspirationsgeber, und es darf experimentiert werden, welche Praktiken am besten funktionieren, um mit den Göttern oder auch anderen Wesenheiten in Kontakt zu treten.
Die Frage ist, wie man unseren Glauben leben möchte. Möchte man in erster Linie möglichst historisch getreue Rituale und Bräuche wiederbeleben, oder möchte man vor allem mit den Gottheiten in Kontakt kommen, ohne zu großen Wert auf historisch getreue Praktiken zu legen. Ich halte beide Herangehensweisen für legitim.
Eichenstamm (Freitag, 23 August 2024 21:19)
Hallo Jutta,
es tut mir leid, wenn das so rübergekommen ist. Wie ich im ersten Absatz schrieb, halte ich die spirituelle Arbeit für den wichtigsten Faktor, wenn man mit den Göttern in Kontakt treten möchte. Was ich kritisiere, ist, wenn Wissenschaft oder Kenntnis der Vergangenheit herabgewürdigt werden, während man sich andererseits ständig darauf beruft bzw. den Verirrungen der Esoterik anheimfällt, weil man "es nicht besser weiß".
Ich respektiere es völlig, wenn jemand auf persönliche Art und Weise mit den Göttern in Kontakt tritt und darauf sein spirituelles und kultisches Leben begründet. Tatsächlich ist das ein Aspekt, der mich sehr interessiert. Darf ich fragen, wie du deinen Kult gestaltest? Und wie bist du auf diesen Weg gestoßen? (Ausprobieren, Instinkt, Erfahrungen zweiter?)