Heutzutage wird die Religion als etwas Individuelles betrachtet. Ein bisschen wie ein Lebensstil, eine Weltanschauung, es ist jedem Menschen frei überlassen, woran er glauben möchte. Diese
Religionsfreiheit ist sogar im Grundgesetz verankert und gilt als wichtiges Gut eines modernen, demokratischen Staates.
Tatsächlich ist die Religionsfreiheit ein hohes Gut, das im Folgenden nicht infrage gestellt werden soll. Ebenso wenig soll das ein Missionierungsaufruf oder ein Absolutheitsanspruch werden, ganz
im Gegenteil. Eher geht es um die Fragestellung, wie viel mehr wir in den 1000 Jahren verloren haben und wohl nicht wiedergewinnen werden, wie viel mehr als das Wissen, das nicht überliefert
wurde, wie viel mehr als unsere Tradition.
Wir haben unser Verständnis vom Glauben verloren.
Wie in einem anderen Artikel bereits dargelegt, bezeichnet das Wort Religion, das uns seit Jahrhunderten prägt, das, was für den
Asenglauben der Begriff „Alte Sitte” bezeichnet. Ebenso wie auch „din” für den Islam und „dharma” für den Hinduismus bezeichnen Religion und Alte Sitte keine göttlichen Eigenschaften, Götterkult
etwa, sondern etwas Soziales, Gesellschaftliches. Religion (Alte Sitte/Din/Dharma) war fester Bestandteil der Gesellschaft, der Kult ein Teil der Kultur, die gesellschafliche Ordnung zu
akzeptieren bedeutete die Götter zu ehren, die Normen anzuerkennen war gleichgesetzt damit, den religiösen Normen zu folgen.
In einer säkularisierten Gesellschaft wie der, in der wir leben, wird diesen Kategorien der Boden entzogen. Und damit wird der Glaube um wichtigte Facetten gebracht, die ihn eigentlich
vervollständigen würden. Der Ethnologe Durkheim meinte gar, die Religion sei es, die Kulturen und Gesellschaften erbaue.
Welche Kulturen erbauen Atheismus und eine Religion, die innerhalb der Gemeinschaft keinen gemeinsamen Nenner mehr haben?
Ein Glaube, ein Kult bedeutet, dass ein Mensch die verwendeten Symbole (Zeichen, Mythen usw.) dekodifiziert, eine Umwelt, seine Vorfahren, seine Gesellschaft dekodifiziert, sich selbst darin
erkennt, sich selbst dekodifiziert. Ein Glaube, ein Kult bedeuten eine Identifikation mit kollektiven Symbolen und Konsens. „Religion” (im Sinne unterschiedlichster Glaubenssysteme) ist also auf
ganzer Ebene kollektiv.
Identifikation. Gesellschaft. Kollektives Gemeinschaftsgefühl. All diese Dinge kommen uns heutzutage immer mehr abhanden — und das nicht von ungefähr. Bereits das Christentum hat die kollektive Wurzel ausgerissen, die Spiritualität auf Eliten konzentriert und damit den gemeinschaftlich erlebten Glauben in ein
Ungleichgewicht gebracht. Die Kritik der Aufklärer und von Philosophen wie Feuerbach, Nietzsche und Marx war längst überfällig, die darauf folgende Säkularisierung eine logische
Konsequenz.
Heute ist Glaube eine individuelle Entscheidung. Allgemein ist heute alles individuell, das egozentrische Individuum scheint der weiseste Mitbürger, ist er doch immer auf sein eigenes Wohl
fixiert. Ellbogengesellschaft ist eine betrauerte Folge davon — eine, die nichtsdestotrotz auf allen Ebenen gefördert wird.
Und mittendrin steht der Mensch mit seinem individuellen Glauben, sucht nach göttlichem Anreiz und göttlichen Antworten und versteht nicht, warum diese höheren Mächte fern bleiben. Die
Glücklichen unter ihnen haben eine fanatische Sekte gefunden, in der die Glaubensregeln höher stehen als die gesellschaftlichen. Die weniger Glücklichen versuchen händeringend Glaube und
Gesellschaft miteinander zu vereinen, auch wenn beide in entgegengesetzte Richtungen zerren. Und während es in der unglaublichen Masse von Katholiken und Protestanten, Anglikanern und Orthodoxen,
Mormonen und Zeugen Jehovas, Hinduisten und Buddhisten, konservativen Asentreuen, Neuheiden und Altheiden an Individualität nicht fehlt, mangelt als an religiösen Gemeinschaften, die imstande
sind, der Spiritualität einen ausreichend großen Platz im Leben einzuräumen. Das größte Geschwür, das größte Opfer dieser Zeit erblickt man in den Reihen der Ásatrúar selbst, wo die
Individualität dazu geführt hat, dass hunderte dieselben Götter haben, aber keiner denselben Kult.
Jeder kennt das berauschende Gefühl einer Gemeinschaft. Mancher kennt das berauschende Gefühl einer Gemeinschaft, die sich in überirdische Kreise aufschwingt, während sie das Göttliche
sucht.
Die altenglische Sprache hatte ein eigenes Wort für diese kollektive Kraft: „Dream” bezeichnete den tranceartigen Zustand bei geselligem Zusammensein. Heute ist „dream” etwas gänzlich anderes
geworden. Im wörtlichen und übertragenen Sinne.
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Nachtsegler (Montag, 17 Dezember 2018 16:14)
Unsere gerne mit VUKA beschriebene Welt ist gezeichnet von großer Mobilität. Kommunikation und Bewegung verändern sich rasant, daraus resultiert ein anderes Miteinander. Und das wiederum beeinflusst Gemeinschaft. Manche Gesellschaften zudem setzen auf erodierende Primärgruppen, andere halten an Mehrgenerationenhäusern fest. Jüngere Menschen suchen die Bewegung, das Fremde und Ferne; ältere eventuell nicht. Dass der hochgradig variable Raum (zeitlich, gesellschaftlich und tatsächlich geografisch) sich auf Gemeinschaft auswirkt, erscheint nur logisch. Das war um 800 n.C. eben noch anders, steckte in den "Kinderschuhen". Was zweifellos nicht für die übertragenen Sitten galt. Wem aber will man heute noch welche Sitte, welche Tradition übergeben?
Eichenstamm (Mittwoch, 19 Dezember 2018 13:34)
Du sprichst ein Kernproblem unseres Kultes an - und auch ein Problem, um das ich immer wieder gedanklich kreise. Ein paar Rohfassungen liegen diesbezüglich auf meiner Festplatte herum, ich wollte sie irgendwann in geordnete Bahnen lenken und hier veröffentlichen.
Die Fragen, die du stellst, führen nämlich in meinen Augen zu der äußerst gefährlichen Frage: Ist eine Alte Sitte überhaupt noch möglich, wenn all diese Parameter nicht mehr mit jenen übereinstimmen, die wir vor der Christianisierung hatten? Machen all diese Parameter nicht das Umfeld aus, das es braucht, um eine Alte Sitte überhaupt leben zu können? Und wenn wir diese Fragen alle negativ beantworten müssen - dann müssen wir uns fragen, worauf eine Wiederbelebung der Alten Sitte überhaupt setzen kann.
Der Glaube an die Götter ist das eine. Der Kult ist eine andere Sache.
Nachtsegler (Mittwoch, 19 Dezember 2018 19:28)
Nun ja, in „alte Sitte“ steckt ja per nomen ein Teil der Antwort. Welche man mit Transportabiltät/Transfer und sicher demnach Transformation erweitert beantworten müsste... muss!
Nachtsegler (Sonntag, 20 Januar 2019 19:52)
p.s.: ein Kult wächst. Aus sich heraus, aufgrund entstehender Gefolgschaft, aufgrund Antworten, Halt und Orientierung, welche die Gemeinschaft den Suchenden bietet.
Oder, anders und ggf. simpler ausgedrückt: Die Frage nach der Wesensform wird der Prozess und dessen Steuerung liefern.
Eichenstamm (Donnerstag, 31 Januar 2019 16:08)
Im Prinzip stimme ich dir zu, ich denke nur, dass unser Kult den großen Makel hat, auf keinerlei feste Gemeinschaft zurückgreifen zu können. Inwiefern sich also eine Sitte bzw. ein (gemeinschaftlicher) Kult entwickeln kann, ist fraglich.
Mit Gemeinschaft meine ich natürlich keine Blótgruppen von 3-10 Personen.
Nachtsegler (Dienstag, 12 Februar 2019 20:36)
Ein Kult braucht Zeit, Anziehungskraft und Zuversicht. Mehr ist es nicht. Allerdings eben auch nicht weniger.
Eichenstamm (Samstag, 02 März 2019 19:04)
Ich denke, diese drei Punkte sind definitiv wichtig für einen funktionierenden Kult, inwiefern sie aber ausreichen, würde ich hinterfragen :)