Das altnorwegische Runengedicht: Rezeption

Wie das angelsächsische Runengedicht ging auch das altnorwegische Runengedicht vollständig verloren. Aus diesen Grund erweist sich die Forschung daran als schwierig. Árni Magnússon und Ole Worm berichten beide, dass das Gedicht aus einem Gesetzeskodex stammt. Dieser ging bei einem Brand in Kopenhagen 1728 zugrunde, über seinen Inhalt ist generell wenig bekannt.

Heute sind uns nur zwei Abschriften vom Ende des 17. Jahrhunderts sowie ein Abdruck von 1636 erhalten. Erstere gehen auf Árni Magnússon (E Don. Var. 1-2° Barth. D) und Jón Eggertsson (Papp. Folio Nr. 64x) zurück, der Druck dagegen auf Ole Worm. Die beiden Abschriften stimmen größtenteils miteinander überein, der Druck dagegen weicht in einigen Elementen ab. Man geht jedoch davon aus, dass Ole Worm dasselbe Manuskript vorlag. Ole Worm war des Altnorwegischen nicht allzu kundig, weshalb sich bei ihm einige Fehler eingeschlichen haben. Trotzdem beziehen sich die meisten späteren Abschriften des Gedichts auf Worm, da seine Fassung vermutlich leichter zugänglich als die Magnússons und Eggertssons war.

Die Runennamen sind einzig bei Worm zu finden, es ist jedoch nicht klar, ob er diese aus dem Originaltext zog, da er dies nicht explizit erwähnt. Aus diesem Grund mussten die Runennamen über andere Runica Manuscripta erschlossen und geprüft werden (tatsächlich ist Worms Fassung auch beim Thema Runennamen nicht ganz korrekt).

Grundsätzlich muss bei der Fassung von Worm und einigen seiner späteren Kopisten beachtet werden, dass sie den Text nicht nur abschrieben, sondern zeitgleich interpretierten und - bei mangelndem Verständnis - selbst einen Sinn einzufügen suchten, während Eggertsson und Magnússon lediglich die Verse wiedergeben wollten.

 

Die Strophen des Runengedichts bestehen aus zwei Langzeilen pro Rune, die sowohl durch Stäbe als auch Endreim verbunden sind. Auffallend ist, dass der Abvers jeweils mit dem Anvers wenig zu tun zu haben scheint und daher eine Deutung schwer fällt. Wilhelm Grimm schreibt in seinem Ueber deutsche Runen (1821): "Die zweite Zeile ist jedes Mal bloß des Reims wegen zugesetzt und steht ihrem Inhalt nach mit der ersten in keiner weiteren Verbindung." Diesem Ansatz folgte die Forschung lange Zeit, bis Clunies Ross 1990 einen ersten Zusammenhang zwischen An- und Abvers in der f-Strophe nachweist. Seither werden weitere Verbindungen gesucht und in der Forschung diskutiert.

Ole Worm, 1588-1654
Ole Worm, 1588-1654
Árni Magnússon, 1663-1730
Árni Magnússon, 1663-1730

Die Datierung

Das altnorwegische Runengedicht kann wegen des Verlustes des Originals nur anhand linguistischer Formen und dem Reimschema zeitlich zugeordnet werden. Kålund betrachtete zusätzlich die Textteile, die Árni Magnússon vor dem Runengedicht in seiner Abschrift aufführte; laut Magnússons Randbemerkungen gehören diese zur selben Ursprungshandschrift. Kålund datiert anhand dessen das Runengedicht auf spätestens 1337, dessen Vorlage dürfte allerdings noch jünger sein. Im Laufe der Forschungsdiskussion hat sich mittlerweile eine Zeitspanne zwischen 1200 und 1337 ergeben.

Den Verfasser des Runengedichts siedelt man in West- oder Südwestnorwegen an.

Die Primärquellen

Jón Eggertsson, Papp. Folio Nr. 64x

Die Handschrift stammt aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts und wurde neben Eggertsson von Helgi Ólafsson und einem unbekannten Dritten verfasst. In dem Manuskript wurden altisländische literarische Texte sowohl heidnischen als auch christlichen Inhalts gesammelt.

Im Runengedicht werden neben den Strophen nur die Runenzeichen aufgeschrieben, ihr Name ist nicht verschriftlicht. Die Zeichen entsprechen einer Mischung aus dänischen Normalrunen und Kurzzweigrunen. Diese Reihe wird auch als "norwegische Runenreihe" bezeichnet und ist ab dem 11. Jahrhundert der norwegische Standard.

Unterhalb des Gedichts wurde eine lustige Reimerei über die Schwierigkeit des Runendeutens verfasst. Auch wenn die Schrift von Eggertsson dieselbe ist, lässt die Sprache darauf schließen, dass der Ursprung jünger als der des Gedichts ist.

Abschrift von Jón Eggertsson
Abschrift von Jón Eggertsson

Árni Magnússon, E Don. Var. 1-2° Barth. D

Árni Magnússon, ein isländischer Gelehrter, verfasste die Handschrift wohl zwischen 1686 und 1689. Dass einige Seiten darin unbeschrieben sind, lässt darauf schließen, dass Magnússon sie mit weiteren Abschriften von alten Manuskripten füllen wollte und die Arbeit nicht vervollständigt hat. Thematisch orientiert sich die Handschrift an skandinavischer Geschichte und nordisch-christlichem Recht.

Wie bei Eggertsson sind die Runen nur als Schriftzeichen belegt (auch hier norwegische Runen), nicht aber die Runennamen.

Ole Worms Abdruck

Die erste Fassung des Abdrucks stammt aus dem Jahr 1636 und wird in der Abhandlung des dänischen Forschers Ole Worm Runir seu Danica Literatura Antiqvissima, Vulgo Gothica dicta veröffentlicht. Worm belegt sowohl Schriftzeichen als auch Runennamen in seiner Transkription - im Gegensatz zu Eggertsson und Magnússon. Sie lauten: fe, ur, duß, oys, ridhr, kaun, hagl, naud, iss, aar, sol, tyr, biarkan, laugr, madr, yr.

Diese Namen sind jedoch fehlerhaft und da Worm nicht schreibt, woher er sie entnommen hat, bestehen gehörige Zweifel an der Genauigkeit des Abdrucks.

Die weiteren Abschriften (Sekundärquellen)

Manuskriptname 

 

Beschreibung

 

AM 738 4tox

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

1680, Anmerkungen von Jón Sigurðsson (isländischer Politiker des 19. Jahrhunderts) und Árni Magnússon. Exzerpe aus der Lieder-Edda und christliche Gedichte. Neben dem Runengedicht, kopiert von Ole Worms Abdruck, finden sich außerdem acht neu hinzugedichtete Merkverse zu punktierten Runen. Auch diese Runen finden sich bei Worm, nicht jedoch die gedichteten Verse.

Die Runen heißen stunginn tyr (= d), stunginn ys (= e), stungit kaun (= g), plästur (= p), kniesol (= c, z), æsingur (= æ), tvy ørvadur bogi (ǫ) und elli hvyld (?).

 

 

Die Übersetzung (nach Alessia Bauer):

 

Punktiertes Týr: Der Verwundete hat seinen Mut,

er war in der Kampfesanstrengung.

 

Punktiertes Eis: Es ist erprobt [steht aus Erfahrung fest],

das Stehlen geschieht oft im Verborgenen.

 

Punktiertes Geschwür verursacht Erschöpfung,

ich glaube, dass große Wunden bluten.

 

Pflaster lindert den Schmerz der Wunden,

viele sind in die Jahre gekommen.

 

Gebeugtes Knie: Die Männer erproben,

im Krieg kommt die Verletzung.

 

Aufregung [ist] allen etwas Verdächtiges,

das Kind schreit, das Gericht quält.

 

Zweifach gespannter Bogen: Aus dem Rachen der Wölfin

standen zwei Pfeile in der Luft.

 

Altersruhe: Anstrengung oder Alter

werden immer im Unglück sein.

 

 

Abdruck von Runólfur Jónsson

 

1651, Kopenhagen, Arbeit zu den beiden älteren skandinavischen Runengedichten, Abschrift von Ole Worm, in der Jónsson versucht zu haben scheint, Worms Fehler zu korrigieren.

 

 

AM 413 folx

 

 

 

Von Jón Ólafsson, Erstausgabe 1732 (nicht mehr erhalten), Nacharbeitung 1752, Kopenhagen, wissenschaftliche Arbeit zur Runenschrift. Vermutlich mithilfe von Runólfur Jónssons Abschrift sowie AM 738 4toergänzt.

 

AM 148 8vox

 

 

Ende des 17. Jahrhunderts, Kopenhagen, Gedichts- und Strophensammlung mit ein paar Prosastücken. Beinahe identisch mit Ole Worms Abdruck.

 

Thott 477 8vo

 

 

Von Markús Þorláksson, 18. Jahrhundert, Kopenhagen. Sammlung von Alphabeten und Schriftreihen. Das Runengedicht ist unvollständig, zeigt aber Ähnlichkeit mit dem Abdruck von Runólfur Jónsson.

 

NKS 1867 4tox

 

 

Von Priester Ólafur Brynjúlfsson, 1760, Kopenhagen. Poetische Texte, Exzerpte der beiden Eddas und Abhandlungen der Runenschrift. Kopie von Ole Worm.

 

Quelle: Bauer Alessia, Runengedichte - Texte, Untersuchungen und Kommentare zur gesamten Überlieferung, Hrsg. Rudolf Simek in: Studia Medievalia Septentrionalia Band 9, 2003

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