Das angelsächsische Runengedicht: Rezeption

George Hickes
George Hickes

Die Rezeption des angelsächsischen Runengedicht erweist sich aufgrund des Verlustes des Originals als schwierig. Das Gedicht war in der Handschrift Cotton Otho B X fol überliefert, auf dem Blatt 165 verso. Bei einem Brand im Ashburnham-House in London am 23. Oktober 1731 wurde das Manuskript stark beschädigt, heute sind nur noch etwa 50 Seiten erhalten. Das Runengedicht ist nicht darunter.

 

Aus diesem Grund muss sich die Forschung auf die Abschrift von George Hickes aus dem Jahr 1705 verlassen. Diese findet sich in seinem Werk Linguarum Veterum Septentrionalium Thesaurus Grammatico-Criticus et Archæologicus in Band 1 auf Seite 135.  Es ist ungeklärt, wie präzise Hickes gearbeitet hat.

 

In der originalen Handschrift waren größtenteils Texte über Heilige bzw. mit stark christlichem Kontext gesammelt, direkt vor dem Runengedicht befand sich der Text Pænitentiale Saxonicum. Aufgrund zweier Kataloge aus der Zeit vor der Beschädigung des Manuskriptes, die sich hinsichtlich der Beschreibung des Runengedichtes unterscheiden, ist davon auszugehen, dass das Gedicht nicht von Anfang an in die Handschrift integriert war, sondern erst nachträglich anstelle einer anderen Seite eingefügt wurde. Einer dieser Kataloge, der Catalogus librorum manuscriptorum bibliothecæ Cottoniancæ von Smith, spricht etwa von zehn Runen: "Ausländische Buchstaben, zehn an der Zahl. Manche davon scheinen Runen ähnlich zu sein."

Auf Hickes Abschrift des Gedichts finden sich aber mehr Runen, 29 mit Versen umschrieben, 2 weitere ohne Verse. Am Ende des Textes befindet sich eine Reihe von 9 Runen mit dem lateinischen Zusatz: "Hos characteres [neun Runen eingefügt] ad alia sestinans studioso lectori interpretanda relinquo." Übersetzt: "Ich selbst, der zu anderem übergehen möchte, überlasse dem eifrigen Leser diese Zeichen o, l d, w, n, x, f, o, g um sie zu deuten." Man hält dies für eine Federprobe, da die Runen keinen sinnvollen Text ergeben.

Es steht jedenfalls zur Diskussion, ob Smith in seinem Katalog diese Runen meint und sich von neun auf zehn Runen verzählt hat.

 

Datierung

Da das Runengedicht also höchstwahrscheinlich nicht von Anfang an zur Handschrift gehörte, kann seine Datierung nur anhand linguistischer und inhaltlicher Aspekte untersucht werden. Die Verwendung der 24 Runen des älteren Futhark und der Stil des Gedichts deuten auf eine Entstehung um 800 hin. Zu dieser Zeit war nämlich noch die stabende Langzeile in Verwendung; wäre es später entstanden, könnte man Endreim erwarten. Zusätzlich für ein hohes Alter spricht, dass palatales und velares g (gyfu - gumena) miteinander staben; ab dem 10 Jahrhundert wurden sie aber zu unterschiedlichen Lauten. Allerdings gibt es zwei unterschiedliche Runen für palatales und velares g, was diese These wiederum fragwürdig erscheinen lässt.

Für eine Entstehung im 10.-11. Jahrhundert spricht dagegen der westsächsiche Dialekt, der erst ab 900 zum schriftlichen Standard wurde. Aufgrund dieser unterschiedlichen Indize, geht man davon aus, dass das Gedicht selbst zwar ins 8.-9. Jahrhundert datiert werden kann, die Verschriftlichung aber erst im 10. Jahrhundert stattfand. Vermutlich geht dem Gedicht eine lange Zeit der mündlichen Überlieferung voran.

 

Über den Verfasser des Textes ist wenig bekannt. Sehr wahrscheinlich war er ein angelsächsischer Christ. In das Gedicht brachte er wohl eigene Vorstellungen hinein und dichtete vermutlich einige Strophen im christlichen Sinne um. Auch manche Runennamen wurden ent-paganisiert, wie etwa die Thurs-Rune, die zum Dorn wurde. Möglich wäre meiner Ansicht nach außerdem, dass er nachträglich eine zweite g-Rune hinzufügte.

George Hickes Abschrift im Linguarum Veterum Septentrionalium Thesaurus Grammatico-Criticus et Archæologicus, Seite 135
George Hickes Abschrift im Linguarum Veterum Septentrionalium Thesaurus Grammatico-Criticus et Archæologicus, Seite 135

Quelle: Bauer Alessia, Runengedichte - Texte, Untersuchungen und Kommentare zur gesamten Überlieferung, Hrsg. Rudolf Simek in: Studia Medievalia Septentrionalia Band 9, 2003

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