Die Vǫluspá - Die drei stef

"Stef" ist der altnordische Name für eine Art Refrain, der üblicherweise in der Skaldik vorkommt. Ein stef formuliert das eigentlich inhaltlich Gleiche mit unterschiedlichen Worten und tauscht dabei beispielsweise nur die Kenningar aus.

Das ist bei der Vǫluspá anders. Hier sind die stefir jeweils identisch und variieren sprachlich nicht. Dafür aber hat das Lied gleich drei unterschiedliche stefir - was selbst für eine Skaldenstrophe ungewöhnlich wäre.

 

Die Vǫluspá ist das einzige Lied in der gesamten Edda, welches einen stef besitzt. Zusammen mit ihrer Stellung ganz zu Beginn der Edda kommt ihr somit also eine herausragende Stellung zu. Auch in der Skaldik wertet ein stef eine Strophe deutlich auf (siehe dazu den Artikel über den Stellenwert unterschiedlicher skaldischer Strophenformen).

Verteilung der stefir

Wie im Hauptartikel bereits dargelegt, kann die Vǫluspá in drei unterschiedliche Themen unterteilt werden: Entstehung der Welt, Gegenwart (welche durch die ersten bedrohlichen Anzeichen gekennzeichnet ist) und Ragnarök (mit Entstehung der neuen Welt). Die drei stefir begleiten jeweils einen dieser Teile, wobei der zweite sich auch in den dritten Teil hineinzieht.

stef

altnordisch

Übersetzung (nach Genzmer)

In Strophen

 1

 

Þá gengu regin öll.

á rökstóla,

ginnheilög goð,

og um það gættust

 

 

Zum Richtstuhl gingen

die Rater alle,

heilge Götter,

und hielten Rat.

 

6, 9, 23, 25
2

Vituð ér enn, eða hvað?

 

  Wisst ihr noch mehr?

 

27, 28, 33, 35, 39, 41, 48, 63, 64

 

3

Geyr Garmur mjög

fyr Gnipahelli,

festur mun slitna

en freki renna;

fjöld veit hún fræða,

fram sé eg lengra

um ragnarök

römm sigtíva.

 

Gellend heult Garm

vor Gnipahellir:

es reißt die Fessel,

es rennt der Wolf.

Vieles weiß ich,

Fernes schau ich:

der Rater Schicksal,

der Schlachtgötter Sturz.

 

44, 49, 54, 59

Deutung

Der erste stef kommt allein im ersten Drittel der Vǫluspá vor. Diese Strophen der Entstehung der Welt und des Machtausbaus der Götter kennzeichnen das goldene Zeitalter. Die Erde wird emporgehoben, Himmel und Gestirne eingesetzt, die Zeit geregelt, Zwerge und Menschen erschaffen. Auch als der Vanenkrieg naht, tut dies der Macht der Götter keinen Abbruch. Noch immer sind sie "hochheilige Rater", die über die Welt wachen und ihren Weg lenken.

 

Ein Stimmungsumbruch findet in der Strophe statt, in der von Heimdalls Horn gesprochen wird (Strophe 27). Von dort spannt die Seherin den Bogen zu Walvaters Pfand, eine Kenning für Mimirs Brunnen. Sie erzählt, dass Odin sie aufsuchte und um "Zukunftswissen" bat. Das ist der Moment, in dem die Spannungskurve drastisch ansteigt, denn die Seherin sieht Unheil.

Der zweite stef - "Wisst ihr noch mehr?" - ist furchterweckend und dramatisch. Die Seherin lässt die Frage mit anklingen, ob sie einhalten oder weitererzählen soll. Natürlich erzählt sie weiter, doch nach jedem abgeschlossenen Thema fragt sie erneut, ob sie weitersprechen soll. Sie berichtet von Balder und seinem Tod, von Loki, der seiner Strafe fristet, sie erzählt vom Übel, dass im Süden und Norden lauert, von der Geburt der Söhne des Fenriswolfes, welche Tag und Nacht verschlingen werden.

Hier ist der Einsatz von Ragnarök - die Hähne beginnen zu krähen, Fjalar bei den Reifriesen, Gullinkambi bei den Göttern, der Namenlose bei Hel. Ab diesem Zeitpunkt steigt der dritte stef ein und überschneidet sich mit dem zweiten.

Er erzählt von Garm, der Hund, der bei Hel wacht, und wie die Fessel des Fenriswolfes reißt. Der ganze Ton ist verhängnisvoll und unheilverkündend. Überdeutlich weist er auf die drohende Katastrophe hin und durchbricht die Strophen, die von Ragnarök erzählen. Als einziger stef nimmt er eine gesamte Strophe ein und kommt in dieser Form viermal vor: Einmal zu Ragnaröks Beginn, zweimal inmitten, einmal am Ende. Danach erwacht die neue Welt.

 

Der zweite stef bleibt auch während Ragnarök bestehen und kommt immer wieder vor. Nachdem die Hähne krähen und Garm erwacht, fragt die Seherin noch einmal, ob sie innehalten soll, ein weiteres Mal, nachdem bei den Menschen alles Unheil verkündet wurde (Brudermord und Ehebruch), Yggdrasil zerbricht und nun auch noch Alben und Götter in höchste Not geraten.

Zwei weitere Male fragt sie, doch hier ist bereits die neue Welt in voller Blüte. Die drohenden Worte klingen hier optimistisch und hoffnungsvoll. 

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