Runen: Ein Überblick

Einer der prägendsten Menschen meiner Unizeit war ein Dozent der frühmittelalterlichen Archäologie. Er gehörte zu der Art von Menschen, die sich nicht darum kümmern, ob man anderen durch seine steinharten Ansichten auf die Füße steigt. Stattdessen vertrat er seine Ansichten mit kühlem Selbstbewusstsein und beäugte gerade die Beschäftigung der Esoterik mit Runen äußerst kritisch und spöttisch.

Obwohl ich durchaus der Meinung bin, dass Runen weit mehr sind als nordische Schriftzeichen, hat mich dieser Mann dazu bewegt, sämtliche Informationen, die ich von sogenannten und selbsternannten modernen Runenmagiern lese, ganz anders zu hinterfragen. Und dabei fiel mir auf, dass sogar diejenigen, welche in einer Art Prolog mit wissenschaftlich fundierten Informationen glänzen, den Leser manipulieren, indem sie bestimmtes Wissen ganz bewusst weglassen. Dabei gibt es viele Dinge, die jeder, der sich mit Runen beschäftigt, unbedingt wissen sollte.

Die Runenreihen

Es gibt unterschiedliche Runenreihen. Die wichtigsten sind das ältere und das jüngere Futhark. Ein weiteres, das anglofriesische Futhork, wurde in Großbritannien verwendet. Alle drei unterscheiden sich durch Anzahl der Zeichen, Zeichenform sowie Aussprache der Zeichen, wobei es mal mehr, mal weniger Überschneidungen gibt. In ganz Europa wurden viele weitere Runenreihen entdeckt, die sich häufig ähneln, in den meisten Fällen ist der Zusammenhang allerdings ungeklärt.

Das ältere Futhark war bis Mitte/Ende des 8. Jahrhunderts in Gebrauch und wurde dann vom jüngeren Futhark abgelöst - natürlich nicht abrupt, sondern allmählich. Auf einigen Inschriften finden wir sogar Zeichen beider Futharks.

Mit seinen 16 Zeichen fällt das jüngere Futhark im Vergleich zu den 24 Zeichen des älteren deutlich kürzer aus, viele unterschiedliche Laute entsprechen einem Zeichen. Der Übergang des älteren Futharks zum jüngeren markiert außerdem den Übergang des Urnordischen zum Altnordischen (und daraus resultierend die Sprachneuerungen, die sich in der Schrift niederschlagen mussten). Nicht ganz sicher ist man sich bis heute, warum ausgerechnet bei den Vokalen eine starke Reduzierung stattfand, was die Leserlichkeit im Vergleich zum älteren Futhark sogar beeinträchtigte.

Der Name Futhark entstammt den Lautwerten der ersten sechs Runen Fehu, Uruz, Thurisaz, Ansuz, Raidho und Kenaz. Aus diesem Grund spricht man auch von Runenreihen und nicht Runenalphabeten. Alle Runennamen beginnen mit ihrem entsprechenden Lautwert (Fehu = f), bis auf Algiz, da es im Urnordischen bzw. Altnordischen keinen Begriff gibt, der mit Z beginnt.

Die Funde

Die ersten Runenfunde kommen aus dem 2. Jahrhundert nach unserer Zeitrechnung und stammen aus Fünen und Seeland in Dänemark. Bei ihnen handelt es sich noch um Vorgängerrunen, über die so gut wie nichts bekannt ist, weil sie historisch kaum belegt werden konnten. In den Jahrhunderten danach folgt eine große Fundlücke.

Einen ersten schriftlichen Beleg für Runen finden wir in Tacitus' Germania um 98 unserer Zeitrechnung. Dort heißt es:

 

„Sie schneiden von einem fruchttragenden Baum einen Zweig ab und zerteilen ihn in kleine Stücke; diese machen sie durch Zeichen [im Original "notae"] kenntlich und streuen sie planlos und wie es der Zufall will auf ein weißes Laken. Dann […] hebt [der Priester], gen Himmel blickend, nacheinander drei Zweigstücke auf und deutet sie nach den vorher eingeritzten Zeichen.“

 

 

Heute sind etwa 5.000 Runendenkmäler erhalten, davon der Großteil aus Schweden, Norwegen und Dänemark, außerdem aus Island, Grönland, Großbritannien, Deutschland, Belgien sowie Russland. Weitere, vereinzelte Funde gibt es auch in Frankreich, der Schweiz, Österreich, Ungarn und Rumänien - mit großer Wahrscheinlichkeit wurden sie von den Wikingern in die jeweiligen Gebiete gebracht.

Runeninschriften des älteren Futharks wurden verhältnismäßig wenige gefunden. Nur knapp 270 sind bekannt, die meisten davon sehr kurz. Die genaue Reihenfolge der Runen ist durch mehrere Inschriften belegt.

 

Runen wurden in der Anfangszeit auf Holz oder Knochen geritzt, Stein kam erst später auf. Im Gegensatz zu anderen Schriften, wie der römischen oder griechischen, scheinen Runen von Anfang an einen magisch-kultischen Zweck verfolgt zu haben. Diesen Hinweis gibt nicht nur Tacitus in seinem Text, auch mehrere Funde erhärten den Verdacht, da ihre Aussagen magisch zu sein scheinen. Dazu gehören neben verschiedenen nicht vollkommen geklärten Runenfolgen ("alu", "laukaR", "fuþark") auch viele Brakteatenfunde (münzförmige Metallscheiben, auf die Runen geprägt wurden, häufig ebenfalls mit Schutzcharakter) sowie die Fälle von Runeninschriften auf der Unterseite von Grabplatten, die vermutlich Wiedergänger in ihren Gruften halten sollten. 

 

Die meisten Funde kommen aus der Wikingerzeit, also aus der Zeit von 750 bis 1125, in der das Christentum bereits stark Einzug hielt. In Skandinavien wurden Runen allerdings bis ins 16. Jahrhundert hinein für Alltagsbotschaften verwendet. So wurden in Bryggen (Bergen, Norwegen) nach einem Brand 1955 ungefähr 600 Inschriften mit zum Teil banalem Inhalt freigelegt (etwa Namensschilder oder Kurznachrichten, die in der Funktion einer SMS gar nicht so unähnlich waren).

 

Land

Vorwikingerzeit

(100-750)

Wikingerzeit

(750-1125)

Mittelalter

(1125-1500)

Summe Prozent
Dänemark  158 453 351 962 15,5%
Norwegen 66 138 1445 1649 26%
Schweden 45 2923 660 3628 58,5%
Summe 269 3514 2456 6239  
Runenreihe Älteres Futhark Jüngeres Futhark Jüngeres Futhark    
Sprache

Protonordisch/

Urnordisch

Altnordisch Altnordisch    

Herkunft der Runen

Bis heute ist die Herkunft der Runen aus wissenschaftlicher Sicht ungeklärt. Es gibt unterschiedliche Theorien von verschiedenen Alphabeten des Mittelmeerraumes, welche die Schrift des Nordens beeinflusst haben soll. Die drei wichtigsten sind das lateinische, das griechische und das etruskische Alphabet, wobei die meisten Forscher zu ersterem tendieren.

In einigen Punkten sind sich jedoch alle einig: 

 

  1. Die Runen haben keine rein germanischen Wurzeln
  2. Die Vorlage muss aus einem mediterranen Gebiet stammen
  3. Der Ausgangspunkt für eine mögliche Beeinflussung müssen die ältesten Runeninschriften sein (man kann also nicht von einer mediterranen Beeinflussung zu einem Zeitpunkt ausgehen, in der die Skandinavier schon längst mit Runen geschrieben haben)

 

Weiters untersucht die Forschung Verbindungen der Schriften auf drei verschiedenen Ebenen:

 

  1. Die Kulturgeschichte (welchen kulturellen Aspekt hatte die Schrift bei dem jeweiligen Volk)
  2. Formaler Aspekt (Zeicheninventar)
  3. Linguistischer Aspekt (Übereinstimmung der Laute)

 

Anhand dieser Punkte kann man schlussfolgern, dass ...

 

  1. ... die Runen in der Anfangsphase auch (größtenteils? Teilweise?) für magisch-kultische Zwecke verwendet wurden, wo bei Griechen und Römern (zumindest zum entsprechenden Zeitpunkt) die Buchstaben vor allem Mittel der Kommunikation waren (Briefe, Gesetze oder auch Inschriften beispielsweise unter Statuen),
  2. ... das Zeicheninventar gerade zwischen der lateinischen Schrift und den Runen überragend viele Ähnlichkeiten hat. Manche Zeichen entsprechen sich sowohl in Zeichenform als auch Aussprache (I bzw. Isa; R bzw. Raidho, C bzw. Kenaz, S bzw. Sowilo, B bzw. Berkana, H bzw. Hagalaz), andere Zeichen sind identisch, stimmen aber in der Aussprache nicht überein (M bzw. Ehwaz, X bzw. Gebo, P bzw. Wunjo), wieder andere Zeichen zeigen nur leichte graphische Unterschiede (Uruz, Mannaz, Fehu, Ansuz).

 

Hier entsteht nun aber ein Problem. Die Runen Ingwaz und Eihwaz haben linguistisch keinen Wert im Futhark. Aufgrund einer Lautverschiebung verschmolz das "ei" um das Jahr 100 zum "i", um diese Zeit jedoch haben wir wie erwähnt noch kein älteres Futhark, sondern nur Vorgängerrunen. Und auch das "ng" findet im Urnordischen keinen Gebrauch. 

Allerdings gibt es beide Laute ebenso wenig im Lateinischen und genauso wenig hat ihre Zeichenform eine Übereinstimmung mit dem mediterranen Alphabet.

Wenn die Runen nun also aus eben diesem lateinischen Alphabet entwachsen sind, wie sind diese beiden Runen entstanden? Und vor allem: Warum?

 

Die Wissenschaft ist sich uneinig in diesem Punkt und sucht seit Jahren eine Erklärung dafür, wie eine Schrift aus Rom Skandinavien beeinflusst haben soll - wohlgemerkt zu einem Zeitpunkt, zu dem wir nicht schon seit Jahren Runenpraxis im Norden haben. Es gibt unterschiedliche Thesen zu möglichen Stämmen, die mit Römern in Kontakt kamen, aber bisher gibt es zu keiner davon auch nur einen Beweis.

 

Die Mythologie gibt uns auf die Frage nach der Herkunft der Runen eine Antwort. Im Hávamál heißt es, Odin habe neun Nächte am Weltenbaum gehangen, um das Geheimnis der Runen zu erfahren. Problematisch ist allerdings, dass dieses Lied erst im 13. Jahrhundert nachweisbar ist, also mehr als tausend Jahre nach dem ersten Gebrauch von Runen. Selbst wenn man diese mythologische Herkunft als wissenschaftliche These verwenden möchte, ist das eine zu große Zeitspanne.

 

Mit anderen Worten, die Runen machen ihrem Namen ("runa" = Geheimnnis) weiterhin alle Ehre und offenbaren uns nicht, woher sie wirklich kommen.

Inhalt der Inschriften

Hier kommt nun die wahrscheinlich größte Enttäuschung für jeden Heiden und Runenbegeisterten: Nur rund 20 Inschriften aus dieser doch ansehnlichen Menge an Funden sind rein heidnischen Inhalts. Trotz ihrer offensichtlich heidnischen Herkunft und durch die Aufteilung in Ættire, die jeweils einem Gott unterstehen, ist der Großteil der Steine entweder religionsneutral oder sogar christlich. Nicht wenige zeigen Darstellungen von Kreuzen und enden mit Floskeln wie "Gott helfe seiner Seele".

 

Natürlich muss bedacht werden, dass die meisten Funde schließlich auch aus der Wikingerzeit kommen und das Heidentum daher schon im Begriff war zu verschwinden. Tatsächlich kann es sein, dass die Menschen eher das Verlangen spürten, ihre neue Glaubenszugehörigkeit zu verschriftlichen, als dass Menschen des alten Glaubens erwähnten, dass sie noch immer die Götter ihrer Vorväter anbeteten.

 

Die meisten Inschriften dieser Zeit sind Denksteine für Verstorbene. Ihr Inhalt folgt häufig einem Muster wie "Stenhild ließ diesen Stein errichten über Vidbjörn, den Griechenlandfahrer, ihren Mann. Gott helfe seiner Seele und Gottes Mutter. Osmund Kareson markierte" (U 956 Vedyxa, Danmarks sn).

 

Wir haben meistens also eine fünfteilige Struktur (die Reihenfolge kann variieren):

  • "X machte den Stein für Y"
  • Weitere Informationen zum Tod (häufig Reiseziel und Todesursache)
  •  Verwandtschaftsbezug
  • Religiöse Formel
  • Unterschrift des Ritzers

Diese klassische Inschrift, die ich oben zitiert habe, zeigt außerdem, dass zum einen Auftraggeber des Steines und Runenritzer oft gar nicht dieselben waren, und zum anderen, dass auch Frauen einen Stein in Auftrag geben konnten. Übrigens gab es auch weibliche Ritzerinnen sowie Steine, die für Frauen errichtet wurden.

Runenmagie

Wie schon erwähnt klingt es bei Tacitus an, dass Germanen Runen benutzten, um die Zukunft vorherzusagen. Andere Hinweise darauf, dass Runen tatsächlich magischen Zwecken dienten, finden wir in der Edda: Im Skírnismál droht Skírnir der Riesin Gerda mit einem Fluch ("einen Thursen ritze ich und der Rune drei", also dreimal Thurisaz). In den Liedern über die Völsungen (bzw. auch der Prosaform der Völsunga Saga) führt die Walküre Sigrdrífa Sigurd in die Siegrunen ein. Nicht zu vergessen außerdem der Teil im HávamálOdins Runenlied, in dem von verschiedenen magischen Künsten gesprochen wird, welche mit Runen in Verbindung stehen.

Dennoch unterscheidet sich das magische Verständnis dieser Quellen von dem, was uns die Bücher über Runenmagie heute glauben lassen wollen. Tatsächlich scheint das Ritzen der Runen vor dem Ritual der wichtigste Punkt zu sein. Von einem festen Runensatz, der wieder und wieder verwendet wird, spricht niemand.

 

Allgemein, und das kann man nicht oft und deutlich genug sagen, hat das, was man in solchen Büchern liest, nichts mit historischen Wurzeln zu tun. Die Runen sind dort lediglich Träger für individuelle esoterische oder magische Überzeugungen und werden je nachdem ausgelegt.

Ich persönlich halte es nicht für falsch, Runen als Magieträger zu verwenden. Den Boom, den entsprechende Anleitungen derzeit aber erleben, finde ich jedoch höchst fragwürdig, da es nichts gibt, was alle diese selbsternannten Runenmeister tatsächlich auszeichnet, außer jahrelange spirituelle Beschäftigung mit ihren eigenen Erfahrungen. Leider teilen sie diese Erfahrungen selten als das mit uns, was es sind - nämlich individuelle Interpretationen - sondern stellen viele in ein pseudowissenschaftliches Licht.

Sämtliche Bücher, die sich mit Runenmagie beschäftigen, bauen jenseits jeglicher historischen Überlieferung, ganz egal, was die Autoren im Vorwort behaupten. Anstatt also mehr und mehr Geld für diese Literatur auszugeben, kann man sich genauso gut einen Satz Runen ritzen oder malen und sich dazu seine eigenen Gedanken machen.

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